Für die meisten Menschen ist es schwer vorstellbar, über Monate oder gar Jahre hinweg unfreiwillig von ihrer engsten Familie, also ihren Kindern, ihrer*m Ehe- oder Lebenspartner*innen, ihren Eltern und Geschwistern, getrennt zu leben. Für viele nach Deutschland geflüchtete Menschen und ihre Familien ist genau das die Realität.
Die Bundesregierung hat es sich in ihrem Ampel-Koalitionsvertrag von 2021 zur Aufgabe gemacht, die aktuellen Einschränkungen beim Familiennachzug aufzuheben, damit geflüchtete Familien in Deutschland sicher zusammenleben können und nicht jahrelang getrennt bleiben. Konkret heißt es im Koalitionsvertrag:
“Wir wollen die Visavergabe beschleunigen und verstärkt digitalisieren. [...] Wir werden die Familienzusammenführung zu subsidiär Geschützten mit den GFK-Flüchtlingen gleichstellen. Wir werden beim berechtigten Elternnachzug zu unbegleiteten Minderjährigen die minderjährigen Geschwister nicht zurücklassen. Zum Ehepartner oder zur Ehepartnerin nachziehende Personen können den erforderlichen Sprachnachweis auch erst unverzüglich nach ihrer Ankunft erbringen." (Seiten 138, 140)
Fast zwei Jahre nach Verabschiedung des Koalitionsvertrags steht die Umsetzung dieser Versprechen weiterhin aus. Während andere Vorhaben im Bereich Migration und Flucht bereits umgesetzt wurden, unter anderem die Erleichterung des Familiennachzugs zu Fachkräften, übergeht die Bundesregierung die aufgrund von Flucht und Verfolgung getrennten Familien. Für Zehntausende von ihnen war die Ankündigung, den Familiennachzug zu Schutzberechtigten zu erleichtern, der letzte Hoffnungsschimmer. Geflüchtete Kinder und ihre Familien warten nun seit knapp zwei Jahren darauf, dass die Bundesregierung ihrem Recht auf Familie und ihren damit verbundenen Kinderrechten endlich Priorität einräumt.
Die Familie bietet emotionalen, sozialen und wirtschaftlichen Schutz. Sie kann Ort des Rückzugs und der Stabilität sein. Gleichzeitig ist sie ein zentraler Motor für Inklusion und gesellschaftliche Teilhabe. Denn wie konzentriert man sich auf das Erlernen der deutschen Sprache, auf die Schule oder die Arbeitsstelle, wenn man gleichzeitig fortwährend in Gedanken um seine engsten Angehörigen in der Heimat oder einem Drittland bangt?
Ehe und Familie und die damit einhergehenden Rechte von Kindern stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes (Art. 6 GG), der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 8 EMRK), der europäischen Grundrechte-Charta (Art. 7 EU-GRCh) sowie internationaler menschenrechtlicher Verträge, wie der UN-Kinderrechtskonvention (Art. 3 UN-KRK, Art. 10 UN-KRK). Die Einschränkungen des Familiennachzugs von subsidiär Schutzberechtigen – häufig Bürgerkriegsflüchtlingen, zum Beispiel aus Syrien –, die fehlende Möglichkeit, Geschwisterkinder nach Deutschland zu holen, sowie die in der Praxis jahrelang andauernden Familiennachzugsverfahren stehen aus Sicht der unterzeichnenden Organisationen nicht im Einklang mit diesen menschenrechtlichen Verpflichtungen. Die daraus resultierenden Missstände müssen dringend behoben werden, so wie es im Koalitionsvertrag vereinbart wurde.
Die Familien können nicht länger warten. Entsprechend erneuern 33 unterzeichnende Organisationen exakt ein Jahr nach dem letzten Appell zum Familiennachzug anlässlich des Weltkindertages die Forderung nach einer unverzüglichen Umsetzung des Koalitionsvertrags.
Für eine genaue Darstellung der Problemlage und der Forderungen verweisen die Organisationen auf den gemeinsamen Appell zum Weltkindertag 2022. Es ist dramatisch,
dass sich ein Jahr später nichts verbessert hat.
Unterzeichnende Organisationen, Stand 20.09.2023:
ACAT Deutschland e.V. (Aktion der Christen für die Abschaffung der Folter)
Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF)
Amnesty International Deutschland e.V.
Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein
AWO Bundesverband e. V.
Brot für die Welt, Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V.
Bundesarbeitsgemeinschaft Evangelische Jugendsozialarbeit e.V. (BAG EJSA)
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft PRO ASYL
Bundesweite Arbeitsgemeinschaft Psychosozialer Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer -
BAfF e.V.
Der Paritätische Gesamtverband
Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF e.V.)
Deutscher Caritasverband e.V.
Diakonie Deutschland
ECPAT Deutschland e.V.
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
FORUM MENSCHENRECHTE – Netzwerk deutscher Menschenrechtsorganisationen
International Refugee Assistance Project Berlin gGmbH
International Rescue Committee IRC Deutschland gGmbH
Internationaler Bund (IB)
IPPNW Internationale Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/ Ärzt*innen in sozialer
Verantwortung
Jesuiten-Flüchtlingsdienst Deutschland
Jugendliche ohne Grenzen in Deutschland e.V.
KOK – Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Menschenhandel e.V.
Landesflüchtlingsräte
National Coalition Deutschland – Netzwerk zur Umsetzung der UN - Kinderrechtskonvention
Neue Richtervereinigung e.V.
Ökumenische Bundesarbeitsgemeinschaft Asyl in der Kirche e.V.
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e.V., RAV
Save the Children Deutschland e.V.
SOLWODI Deutschland e.V.
SOS-Kinderdorf e.V.
terre des hommes
Verband alleinerziehender Mütter und Väter e.V. (VAMV)
Verband binationaler Familien und Partnerschaften, iaf e.V.