Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein führt im Abschiebungsgefängnis Rendsburg regelmäßig Beratungen durch. Darüber hinaus wenden sich immer wieder Angehörige von Inhaftierten hilfesuchend an die Organisation. Der Flüchtlingsrat bestätigt die in seinem heute vorgelegten Jahresbericht 2011 vorgebrachte Kritik des Landesbeirats für den Vollzug der Abschiebungshaft in Schleswig-Holstein.
Schon die Inhaftnahmepraxis ist rechtlich bisweilen höchst problematisch. Der Flüchtlingsrat muss dem ehemaligen Landesflüchtlingsbeauftragten Wulf Jöhnk beipflichten, wenn dieser beklagt, dass Abschiebungshaft allzu oft ohne ausreichende Beachtung des Verfassungsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit von Bundes-, Landes- oder Kommunalbehörden beantragt und von Amtsgerichten angeordnet wird.
Insbesondere die Bundespolizei (BP) fällt hier auf. Immerhin 218 von 288 Personen sind 2011 durch die BP in Haft geraten. In der Regel kamen hier Menschen in Gewahrsam, für die nach der europäischen Dublin-II-Verordnung lediglich ein anderes europäisches Land asyl- und ausländerrechtlich zuständig ist.
Die BP und auch Amtsgerichte sind augenscheinlich im Umgang mit den i.d.R. auf ihrem Fluchtweg nach Norden in Schleswig-Holstein Abgefangenen nicht eben zimperlich und bekannt gewordene Fälle zeigen, dass es ihnen offenbar rechtsstaatlich nicht immer so genau darauf ankommt. So geraten im Widerspruch zu EU-Recht und anderslautender Rechtssprechung Minderjährige in Haft, Familien werden getrennt und eine gründliche Prüfung, ob nicht Alternativen zur Anordnung einer Freiheitsentziehung bestehen, unterbleibt.
Wenn dann auch noch - wie in dem vom Landesbeirat unter Punkt 9 in seinem Jahresbericht benannten 16 Fällen aus Dezember 2011 - bundesgerichtliche Rechtsprechung ignoriert wird, gerät die Inhaftnahmepraxis völlig rechtswidrig. “Dass die Haftanordnung dann einfach durch eine nachgeschobene amtsgerichtliche Entscheidung ‚juristisch geheilt’ und auf dieser Grundlage die ursprünglich rechtswidrig angeordnete Abschiebungshaft fortgesetzt wird, ist ein opulenter Justizskandal!” empört sich Martin Link, Geschäftsführer beim Kieler Flüchtlingsrat.
Nicht minder problematisch in diesem Fall - dem Bericht des Landesbeirats aber leider keiner Erwähnung wert - ist jedoch auch der Umgang mit der an diesen Verfahren beteiligten Häftlingsberaterin der Diakonie. Sie hatte Betroffene pflichtgemäß über die bestehende Rechtslage beraten. Dass sich die besagten 16 Inhaftierten daraufhin mit Haftbeschwerden gegen das ihnen im Zuge der Haftanordnung widerfahrene Unrecht zur Wehr setzten, geriet dem Vollzugspersonal zu vorweihnachtlicher Mehrarbeit und im Ergebnis der beim Diakonieverein Rendsburg angestellten Kollegin zum Schaden. Ihr Anstellungsträger hat ihr - obwohl in der Sache fachlich und sachlich keinerlei Verfehlung vorzuwerfen war - kurzerhand die Beratungstätigkeit in der Rendsburger JVA entzogen. Ob dies auf Druck der relevanten Behörden geschah, ist Spekulation.
Dieser Fall macht einmal mehr deutlich, wie schmal der Grat ist, auf dem sich humanitär und rechtsstaatlich in der Flüchtlingshilfe Engagierte bewegen und mit welchen Sanktionen ein sich an der Gewährleistung des Rechtsschutzes für Asyl und Schutz Suchende orientiertes Handeln ggf. einhergehen kann. “Die in der Beratung - zumal für Abschiebungshäftlinge - Tätigen müssen sich darauf verlassen können, dass die Institutionen, in deren Auftrag sie handeln, ihnen im Zweifel den Rücken stärken, anstatt ihnen in denselben zu fallen.” appelliert Michael Wulf, Vorsitzender des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein.
Doch auch die allgemeine Vollzugspraxis in Rendsburg, wie vom Landesbeirat bemängelt und mit Einzelfällen eindrucksvoll belegt, ist humanitär besorgniserregend. So erhalten Traumatisierte offenbar keine angemessene oder nur erheblich verfristete fachärztliche Hilfe und sind somit nicht selten in wochenlange re-traumatisierungsintensive Haft geraten. Und wenn sie das nicht aushalten, wird ihnen offenbar allenfalls die Verbringung in die “Beobachtungszelle” oder in den “besonders gesicherten Haftraum” verabreicht. In 90% dieser Fälle, die eine solche Behandlung erlebten, sei ein “hohes Maß an Eigen- und Fremdgefährdung” vorhanden gewesen, berichtet der Landesbeirat.
“Welches hohe Maß an Angst und Panik die in Haft Geratenen ergreift, zeigt dass der Wegschluss der Verzweifelten sich im Vergleich zum Vorjahr 2011 um über 60% erhöht hat.” mahnt Martin Link. Eine Zunahme, die angesichts der im selben Zeitraum zurückgegangenen Häftlingszahlen zusätzlich aufmerken lässt.
Die mit dem Bericht des Landesbeirats vorgelegten Daten demonstrieren einmal mehr, dass die Abschiebungshaft ein alter Zopf ist, der abrasiert gehört. 71% Dublin-II-Fälle und 13% aus der Haft Entlassene summieren sich auf mindestens 84% der im Jahr 288 in Rendsburg gefangen Gehaltenen, bei denen mehrheitlich unterstellt werden kann, dass die Inhaftierung entweder humanitär und rechtlich fragwürdig oder nicht zielführend war. Der Flüchtlingsrat fordert die Abschaffung der Abschiebungshaft.
Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein und andere Organisationen rufen zur Beteiligung an der <link seiten-im-hauptmenue aktuell termine>12. bundesweiten Tagung gegen Abschiebungshaft[1] auf, die vom 20. bis 22. April 2012 in Heide/Dithmarschen stattfindet.
gez. Martin Link, Flüchtlingsrat SchleswigHolstein e.V., T. 0431-735000
Downloads:
- <link file:1068 download herunterladen der datei>die Presseerklärung des Flüchtlingsrates als pdf-Datei
- <link file:481 download herunterladen der datei>die Pressemitteilung der Diakonie Schleswig-Holstein als pdf-Datei
- <link file:482 download herunterladen der datei>Jahresbericht 2011 des Landesbeirats SH Abschiebungshaft
- <link file:483 download herunterladen der datei>Stellungnahme des Kieler Justizministeriums zum Jahresbericht 2011 des Landesbeirats SH Abschiebungshaft