Die Landesregierung - offenbar im weitgehenden Konsens mit großen Teilen der Opposition - glaubt offenbar in Schleswig-Holstein das öffentliche Vertrauen in den Rechtsstaat zu stärken durch einen restriktiven Umgang mit ausreisepflichtigen, möglicherweise psychisch kranken mit vermeintlichen Gefährdungspotenzial zulasten Dritter belasteten nichtdeutschen Menschen. Den Königsweg dabei soll ein Konzept nach dem Vorbild bayerischer Gewaltpräventionsambulanzen weisen.
Der Flüchtlingsrat hingegen identifiziert mögliche Lösungen nicht in ordnungspolitischen Restriktionen, die pathologischen Fehlverhalten durch sogenannte Gewaltpräventionsambulanzen, einer kommunikativen Optimierung der Strafverfolgungsbehörden und allenthalben einer Erleichterung beim Datenzugriff begegnen sollen. Schon der Status Quo, in dem quasi jedweder behördlich Beschäftigte auf die personenbezogenen Daten Geflüchteter zugreifen kann, halten wir für höchst problematisch.
In der Anhörung des Innen- und Rechtsausschusses des schleswig-holsteinischen Landtags am 7.6.2023 wurde sehr schnell deutlich, dass das bayerische Konzept zwar geeignet sein kann, psychisch kranken, vermeintlich nicht therapiebereiten Betroffenen, zielführende präventive Angebote zu machen, die geiegnet sind, einer Gewalteskalationsspirale vorzubeugen. Zur Durchsetzung bestehender Ausreisepflicht noch als geeigneter präventiver Ansatz bei den im Fokus der Politik stehenden so betroffenen Geflüchteten ist das Konzept allerdings untauglich.
Der Antrag „Vertrauen in den Rechtsstaat stärken!“ schlägt u.a. die Etablierung „einer multiprofessionellen Gewaltpräventionsambulanz“ nach bayrischem Vorbild vor. Der Begriff Prävention, so wie er im Antrag ausgekleidet wird, bedient jedoch kein Verständnis von vorbeugenden Maßnahmen, wie zeitgemäße pädagogische Konzepte sie nahelegen. Sondern er stellt scharf auf repressive Maßnahmen, die eine schnellere Identifizierung, Erfassung und Inhaftierung sowie Externalisierung (per Abschiebung) von vermeintlichen Straftäter:innen erlauben. Im Gegensatz zum „Identifizieren und Wegsperren“-Ansatz der Fraktionen, enthält eine ressourcenorientierte präventive Herangehensweise an nachhaltige Gewaltprävention Konzepte, die die politisch-demokratische Teilhabe von marginalisierten Menschen stärken, sie stellt die Arbeit an Identitätskonzepten (prominent zu nennen sich hier u.a. Männlichkeitskonzepte) sowie die Stärkung der individuellen psychischen Resilienz von Individuen in den Mittelpunkt.
Die in den Landtagsanträgen vorgeschlagenen Konzepte ignorieren indes vollständig die bei psychisch belasteten vermeintlich gefährlichen Geflüchteten prägenden Lebenserfahrungen und -bedingungen.
Eine nationale Studie der AOK (Schröder, 2018) zeigt auf, dass rund drei Viertel (74,7%) der in Deutschland lebenden Schutzsuchenden unterschiedliche Formen von Gewalt erfahren haben und oft mehrfach traumatisiert sind. Bei mehr als 40% der Befragten zeigten sich zudem Anzeichen depressiver Erkrankungen. Dies gilt für Männer ebenso wie für Frauen und Kinder. Repräsentative Studien stellen fest, dass 80% der in GU Wohnverpflichteten Geflüchteten – gegenüber 20% in der deutschen Allgemeinbevölkerung – als psychisch krank gelten, und sprechen bei Gemeinschaftsunterkünften von Geflüchteten von Einrichtungen für psychisch Kranke. Diese Einrichtungen seien aber weder mit Blick auf die Qualifikation des Betreuungspersonals und auf den Betreuungsstellenschlüssel noch hinsichtlich des notwendigen Zugangs zum Gesundheitssystem bedarfsgerecht ausgestattet.
Gleichzeitig ist festzustellen, dass das herrschende System des restriktiven Asylregimes, der aus der europäischen oder nichteuropäischen Herkunft abgeleitete rechtlichen Ungleichbehandlung von Menschen, die dasselbe Schicksal in die Flucht nach Deutschland geführt hat, aber auch die Systeme sozialer, wirtschaftlicher und gesundheitlicher Diskriminierung, die Wohnverpflichtung, die negative Bleibeperspektive und das ggf. regelmäßig restriktive Verwaltungshandeln - um nur einige Faktoren zu nennen - sozialen Reibungsverlusten und in extremen Fällen vorbelasteter Menschen straftatbestandlichem Verhalten zuträglich sind.
Ein wesentliches Dilemma identifiziert der Flüchtlingsrat darin, dass die geflüchteten Menschen, denen in Deutschland aus politischem Kalkül und qua Rechtslage weniger Chancen und Perspektiven eingeräumt werden, ein höheres Risiko haben, straffällig zu werden. Für Geflüchtete hingegen mit guter Bleibeperspektive – wie etwa Schutzsuchende aus dem Iraq und aus Syrien – bestehen weniger Hürden bei Integration, Arbeitsmöglichkeiten und beim Familiennachzug. Bei Personen aus Ländern mit geringer Schutzquote indes – etwa aus Algerien, Tunesien oder Marokko und nicht zuletzt für staatenlose Palästinenser*innen – wirken regelmäßig integrationsfeindliche Rechts- und Verordnungslagen unter der Bedingung langjähriger Duldung.
Dass aber die Politik bei ihrem Vorstoß im Landtag zumindest nicht allein Präventionsstrategien im Blick hat, die das Ineinandergreifen von ggf. unverarbeiteten fluchtauslösenden Gewalttraumata und einer restriktiven organisierten Perspektivlosigkeit hierzulande angemessen berücksichtigen, offenbart sich ungeschminkt im eher klein Gedruckten. Denn dass der Antrag der Regierungsfraktionen – nach dem Motto Gelegenheit macht Diebe? – en passant gleich alle Geduldeten ins Fadenkreuz nimmt und fordert, „Abkommen mit Drittstaaten zur Rückführung ausreisepflichtiger, auch staatenloser Personen auf den Weg zu bringen", und diese Forderung auch in den Änderungsanträgen der Opposition nicht infrage gestellt wird, stellt das Vertrauen in die sich hier offenbarende Flüchtlingspolitik der demokratischen Parteien auf eine besondere Probe.
„Abkommen mit Drittstaaten“ zur Rückführung ausreisepflichtiger, auch staatenloser Personen sind zur Lösung dieses Problems allerhöchst fragwürdig. Es besteht die Gefahr, dass Personen über diesen Weg in Länder abgeschoben werden können, in denen sie keinen offiziellen Aufenthaltsstatus haben und deshalb unter Umständen quasi vogelfrei und rechtlos in Verelendung bzw. Sklaverei landen ein klarer Verstoß gegen das Abschiebungsverbot gem. §60 Abs.2 AufenthG.
Abschließend - in einer auch nach der gestrigen Innen- und Rechtsausschusssitzung sicherlich nicht abgeschlossenen Diskussion - stellt der Flüchtlingsrat fest, dass ein zweifellos vielversprechenderer Ansatz zur Gewaltprävention in einfacheren, gerechteren, klaren und integrationsoffenen Regelungen, in der Verbesserung des Zugangs zu Beratungs- und Betreuungsnetzwerken sowie zu Behandlungsmöglichkeiten für alle traumatisierten Geflüchtete zu finden ist und in einer entscheidungspositiven und integrationsmotivierenden Rechtslage und Verwaltungspraxis läge.
Hintergrund
Am 25. Januar fand im Regionalzug nahe Brokstedt ein blutiges Attentat statt, dem zwei Jugendliche zum Opfer fielen und bei dem weitere Personen verletzt worden sind. Unmittelbar nach der Tat war ein ausreisepflichtiger staatenloser Geflüchteter, der nach Verlauten aus dem palästinensischen Gaza-Streifen stammt, festgenommen worden. Im Nachgang zum Attentat hat sich der schleswig-holsteinische Landtag am 22. Februar in einer Aktuellen Stunde insbesondere mit den über die mögliche Täterschaft hinausgehenden Fragen zur ggf. auch behördlichen Verantwortung im Zusammenhang mit diese Straftat befasst. Im Zentrum der Debattenbeiträge stand mit Blick auf den vermeintlichen Täter die Frage "Warum ist sojemand noch hier?".
Am 24.3.2023 legten die schwarz-grünen Regierungsfraktionen dem Landtag ihren Antrag "Vertrauen in den Rechtsstaat stärken!" (Drs. 20/825) und die Oppositionsfraktionen von FDP (Drs. 20/863) und von SPD (Drs. 20/876) jeweils diesbezügliche Änderungsanträge vor. Der Landtag hat die Änträge zur Beratung und Beschlussempfehlung an den Innen- und Rechtsausschuss überwiesen, der am 7.3.2023 dazu getagt und eine ausführliche Expert*innen-Anhörung, zu der u.a. der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein eingeladen war, durchgeführt hat.
gez. Martin Link, Flüchtlingsrat SH, public[at]frsh.de, T. 0431-55685640