Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete,
zunächst möchten wir uns sehr beim SSW für die Gesetzesinitiative und beim Ausschuss für die Möglichkeit zur Abgabe einer Stellungnahme zu dem o.g. GE bedanken.
Wir haben diese Gelegenheit gleich mehrfach genutzt und unsere fachliche Einschätzung zu den Details der geplanten Gesetzesnovelle in die Ihnen vorliegenden Stellungnahmen des Integrationsnetzwerks Alle an Bord!und des Fachgremiums Geflüchtete Frauen und Mädchen Schleswig-Holstein mit einfließen lassen.
An dieser Stelle möchten wir ergänzend einige eher grundsätzliche Anmerkungen zur zielführenden rechtpolitischen Etablierung einer Integrations- und Teilhabekultur und diesbezüglichen Rechtslage in Schleswig-Holstein machen.
Dass für Staat und Gesellschaft in Schleswig-Holstein gute Gründe bestehen, die rechtliche, soziale und politische Integrations- und Teilhabekultur und die tatsächlichen für Eingewanderte und für Menschen mit Migrationsgeschichte bestehenden Partizipationsmöglichkeiten einer kritischen Reflexion zu unterziehen, ist u.E. mit Blick auf die Lage im Bundesland und darüber hinaus offensichtlich.
Im Jahr 2019 hatten nach Zahlen des Mikrozensus gut 21 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, was 26 Prozent der Bevölkerung in deutschen Privathaushalten entspricht. Mehr als die Hälfte (52,4 %) davon sind deutsche Staatsangehörige, der Anteil der ausländischen Staatsangehörigen unter denen mit Migrationshintergrund beträgt bundesweit 47,6 Prozent.
Drittstaatler*innen kamen 2022 nach Schleswig- Holstein insbesondere als fast 10.000 um Asyl Nachsuchende, als gut 30.000 Schutzsuchende mit guter Bleibeperspektive aus der Ukraine und als Fachkräfte und Studierende Zuwandernde. Die im Bundesland aufgenommenen Geflüchteten sind inzwischen zu über 65% weiblich. Bundesweit erhielten 2022 mehr als zwei Drittel der Asylsuchenden einen Schutzstatus. Allerdings leben im Bundesland ca. 12.000 Menschen - davon die Mehrheit nach negativer Asylentscheidung - mit nur einer Duldung. Geflüchtete ohne rechtskräftige Anerkennung unterliegen regelmäßig einer Wohnverpflichtung in EAE oder in einer zugewiesenen Kommune.
Der Anteil der ausländischen Staatsangehörigen in Schleswig-Holstein betrug im Jahr 2020 gut 8,5 Prozent, 19 Prozent der Bevölkerung hat einen Migrationshintergrund. Arbeitsverwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft prognostizieren für Deutschland einen jährlichen Zuwanderungsbedarf von mehreren hunderttausend Personen jährlich. Ohne eine forcierte Einwanderung sowie eine systematische Integration der noch nicht aufenthaltsverfestigten nichtdeutschen Inländer*innen wird bis 2025 die Zahl der Erwerbspersonen um rund 9,5 Prozent zurückgehen, bis 2050 sogar um bis zu 30 Prozent. Schleswig-Holstein hat darüber hinaus ein demographisches Problem: 2018 wurden gut 25.000 Geburten und fast 36.000 Todesfälle registriert. Die Städte mit einem - gegenüber dem ländlichen Raum (wenig über 5 Prozent) - hohen Migrant*innenanteil von über 10 Prozent sind Kiel, Neumünster, Flensburg und Lübeck.
Erhebliche Teile der politischen Klasse versuchen derweil eine forcierte Fach- und Arbeitskräfteeinwanderung gegen die Anliegen fluchtbedingt Einreisender und Eingereister auszuspielen. Die Bundesregierung liberalisiert einerseits das Fachkräfteeinwanderungsrecht, belastet andererseits Rechtslagen zur Aufenthaltsverfestigung mit für viele Betroffene absehbar unerfüllbaren Passpflichten und verbreitet ebenso unerfüllbare öffentliche Versprechen einer Abschiebung aller ausreisepflichtigen Geduldeten.
Die einwanderungsgesellschaftliche Realität in Schleswig-Holstein ist allen Unkenrufen -z.B. seitens der kommunalen Bundesverbände - zum Trotz auch unter der Bedingung steigender Zahlen von großer zivilgesellschaftlicher Unterstützungsbereitschaft gegenüber Schutzsuchenden und aus anderen Gründen Einwandernden, deren i.d.R. großen Wertschätzung gegenüber ihrer „neuen Heimat“, aber auch gleichzeitig von sozialen und rassistisch motivierten Ausgrenzungen gekennzeichnet.
Unter dem Eindruck von Klimafolgen, Krieg in Europa, wirtschaftlicher Krise und von Zukunftsängsten in allen Teilen der Bevölkerung nehmen allerdings Konkurrenzdruck und Selbstbezogenheit zu. In Folge solcher gesellschaftlichen Widersprüche geraten demokratische Werte und der grundrechtliche Anspruch von Minderheiten auf Solidarität und Gleichbehandlung unter erheblichen Legitimationsdruck, auf Ausgleich und Toleranz abstellende Umgangsformen werden an den Rand gedrängt.
Vor diesem Hintergrund herrschen im Bundesland erhebliche Bedarfe an einer einwanderungspolitisch sensiblen Strategie zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts im Wege der nachhaltigen Konsolidierung einer chancengerechten Einwanderungsgesellschaft.
Eine systematische Strategie, mit dem Ziel, auf Grundlage von mehr Chancengerechtigkeit zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts beizutragen, dem Mangel an Partizipationsmöglichkeiten insbesondere in herkunftskulturellen Gruppen und der bei einzelnen Gruppen Eingewanderter aus Drittstaaten bestehenden sozialen Vereinzelung und fehlenden Identifizierung mit der sozialen und rechtlichen Kultur des Einwanderungsland gezielt entgegenzuwirken, gibt es in Schleswig-Holstein nur wenige diversitätsorientierte und themen- und zielgruppenübergreifend arbeitende Netzwerke. Ebenso sind programmatische Ansätze der autochthonen Bevölkerungsmehrheit Zugänge zur Wahrnehmungsperspektive Eingewanderter und eine Sensibilisierung für deren Migrations- und Integrationswirklichkeit zu befördern, weder flächen- noch bedarfsdeckend vorhanden.
Soweit der Vorrede.
Auf der Suche nach Antworten darauf, inwieweit der hier zu beurteilende Gesetzentwurf sich konsequent auf die o.g. gesellschaftspolitischen Bedarfslagen bezieht und einen zielführenden rechtspolitischen Ansatz darstellt, lohnt es sich u.E. seine Vorgeschichte zu betrachten.
Es macht den Eindruck, als sei der seinerzeitige Gesetzentwurf für ein Integrations- und Teilhabegesetz der Jamaika-Koalition in ministerieller Weltabgewandtheit kreiert worden. Augenscheinlich wurde versäumt oder vermieden, diese gesetzgeberische Initiative im Dialog mit migrantischen und anderen relevanten Vertreter*innen der Zivilgesellschaft herzuleiten. Das wurde allerdings in der parlamentarischen Befassung mit dem Kabinettsbeschluss nicht besser.
Zwar konnten 34 Repräsentanten aus Wissenschaft, Justiz und Kommunen sowie insbesondere Beratungs- und Einwanderungsfachdienste, Religionsgemeinschaften, Migrant*innen- und Lobbyorganisationen, Antidiskriminierungsexpert*innen, Integrationsforen, Bürgerinitiativen und Wohlfahrtsverbände zur Beratung im Innen- und Rechtsausschuss des Landtages schriftliche Stellungnahmen einreichen und diese im Zuge einer mündlichen Anhörung vortragen. Am Ende des Anhörungstages im Landtagsausschuss machte sich allerdings Ernüchterung breit.
Unter dem Strich ist festzustellen, dass den in den breit gefächerten, kenntnis- und erfahrungsreichen und erkennbar der Idee des chancengerechten Interessenausgleichs in der Einwanderungsgesellschaft verschriebenen Stellungnahmen – mit ihrer auf insgesamt 128 Seiten ausgebreiteten Expertise – leider keine qualifizierte Berücksichtigung im Gesetzgebungsprozess zugestanden wurde. Die Beschlussempfehlungen des Innen- und Rechtsausschusses zum Entwurf eines Gesetzes zur Integration und Teilhabe (Drs. 19/2968) vom 26.5.2021 und die beigefügte Synopse zeigen, dass außer wenigen semantischen Korrekturen bzw. Anpassungen der GE nach der öffentlichen Anhörung im Prinzip unverändert durchgewunken wurde. Der im Gesetz vorgesehene Beirat, in dem „unter anderem Vertreter der Kommunen und Menschen mit Migrationshintergrund vertreten sein“ sollen (§13 Int-TeilhG), ist seit Inkrafttreten des Gesetzes am 23.6.2021 bis heute nicht eingerichtet worden.
Es ist der jetzt anstehenden parlamentarischen Befassung mit dem GE des SSW zu wünschen, dass sie von mehr sichtbarer Berücksichtigung der zivilgesellschaftlichen Expertise und Erfahrungswelt im angestrebten Gesetz gekennzeichnet sein möge.
Grundsätzlich sind wir allerdings der Meinung, dass allein die formellen Beratungsstrukturen der üblichen Gesetzgebungsprozesse bei den hier berührten komplexen sozial-, wirtschafts-, demographie- und gesellschaftspolitisch sowie grund- und menschenrechtlich sensiblen Bedarfslagen einer auf chancengerechte Partizipation und auf eine nachhaltige Förderung des Zusammenhalts in der unumkehrbar diversen Einwanderungsgesellschaft Schleswig-Holsteins ausgelegte authentische Politik sowohl bei der Entwicklung der rechtlichen Rahmenbedingungen als auch der administrativen Umsetzung einer optimalen Vernetzung der Legislative und Exekutive mit den relevanten Strukturen der Zivilgesellschaft bedarf.
Insofern ist es zu bedauern, dass jüngst der Antrag der SPD auf die Neuauflage eines Flüchtlingspakts (Drs. 20/683) im Landtag abgelehnt wurde. Andererseits aber hatte vielleicht diese Initiative mit Blick auf die o.g. komplexen und über die Thematik der Flüchtlingsaufnahme weit hinausgehenden einwanderungspolitischen Herausforderungen ja auch noch zu kurz gegriffen.
Deshalb schlagen wir den Fraktionen des Landtages vor, die Landesregierung zu einer Initiative mit dem Ziel zu veranlassen, ein Dialog- und Kooperationsformat zu etablieren, das die bedarfsgerechten und zielführenden rechtlichen Grundlagen und sozialen Rahmenbedingungen einer Integrations- und Teilhabepolitik im Dialog von Landes- und Kommunalpolitik, Exekutive und der relevanten Zivilgesellschaft her-, ggf. der parlamentarischen Befassung zuleitet und bei der Verankerung und gesellschaftspolitischen Umsetzung kooperiert.
Damit, eine so verstandene partizipativ ausgelegte rechts- und integrationspolitische Initiative in einem künftigen Integrations-, Partizipations- und Teilhabegesetz für das Einwanderungsland Schleswig-Holstein verbindlich zu verankern, könnte man u.E. den Anfang machen.
Mit Dank und freundlichen Grüßen
Martin Link
für Vorstand, Team und Geschäftsführung des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein e.V.