„Die derzeitige Politik der Abwehr und Abschottung setzt auf einen Kuschelkurs mit autoritären Regimen. Aber der Bundesregierung muss klar sein: Flüchtlingsdeals wie mit der Türkei führen zu immensem Leid von Schutzsuchenden, verletzen ihre Menschenrechte und funktionieren in der Praxis schlicht nicht. Die beschworene Partnerschaft zwischen beiden Ländern stabilisiert ein Regime in der Türkei, das selbst für immer mehr Flucht verantwortlich ist”, sagt Wiebke Judith, rechtspolitische Sprecherin von PRO ASYL.
Der EU-Türkei-Deal war und ist rechtlich, humanitär und moralisch inakzeptabel. Die Folgen für Geflüchtete sind fatal: Menschen werden in der Türkei festgesetzt und immer wieder rechtswidrig und mit brutaler Gewalt über die Grenze zurück in die Kriegsgebiete nach Nordsyrien gezwungen oder an ihre Verfolger im Iran oder Afghanistan ausgeliefert. In Griechenland löste der Deal eine permanente humanitäre Krise aus. In den EU-finanzierten Flüchtlingslagern auf den Ägäis-Inseln werden Schutzsuchende ihrer Rechte beraubt und physisch und psychisch verletzt. In Griechenland stieg sowohl an der Landesgrenze als auch in der Ägäis die Zahl illegaler und tödlicher Zurückweisungen auf Rekordhöhen. Trotzdem wird laut Beschluss von Kanzler und Ministerpräsident*innen vom 6. November 2023 die Bundesregierung “die wirksame Fortsetzung und Umsetzung des EU-Türkei-Abkommens weiterhin unterstützen”.
Flüchtlinge aus der Türkei: Steigende Zahlen und sinkende Anerkennungsquoten
Das Regime von Erdoğan zwingt viele Menschen zur Flucht - außerhalb des eigenen Landes durch den Dauerbeschuss auf die Kurd*innen im Nordirak und Nordsyrien sowie durch brutale Verfolgung aus dem eigenen Land. So ist die Türkei nach Syrien aktuell das Hauptherkunftsland von Schutzsuchenden in Deutschland, denn der türkische Staat verfolgt Kritiker*innen mit voller Härte, unterdrückt Minderheiten im eigenen Land. Bis Oktober 2023 stellten über 45.000 türkische Staatsangehörige einen Asylerstantrag. Die sich verschärfende Menschenrechtslage in der Türkei spiegelt sich jedoch nicht in der Schutzquote von Asylantragstellenden aus der Türkei wider. Diese liegt aktuell bei nur 19 Prozent. Das bedeutet, dass nicht mal jeder fünfte Antrag bei dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) erfolgreich ist.
“Das Asylbundesamt BAMF relativiert die Fluchtgründe von türkischen und kurdischen Schutzsuchenden aus der Türkei. Die Behörde geht von der Annahme von Rechtsstaatlichkeit in der Türkei aus und lehnt eine Vielzahl von Asylanträgen von Personen ab, die in der Türkei von Polizeigewalt, mit Berufsverboten oder strafrechtlich verfolgt werden“, mahnt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.
Es ist allseits anerkannt, dass die Türkei umfänglich auf konstruierte Terrorismusvorwürfe gegenüber unliebsamen Einzelpersonen oder Gruppierungen zurückgreift. Ihnen drohen rechtsstaatswidrige Verfahren und langjährige Haftstrafen. Erdoğan herrscht in der Türkei seit 20 Jahren und hat seither den Staat, seine Institutionen und das Justizwesen weitgehend seinem autokratischen Willen unterworfen. Nach dem Putschversuch von 2016 kam es zum weitgehenden Umbau der Justiz, um diese regierungskonform zu schalten.
PRO ASYL und die Flüchtlingsräte der Bundesländer fordern, dass die Bundesregierung gegenüber dem türkischen Staatspräsidenten konsequent menschenrechtliche Standards verteidigt – innenpolitisch, außenpolitisch und selbstverständlich auch flüchtlingspolitisch. Auch die umfängliche Überarbeitung der BAMF-Entscheidungspraxis zur Türkei ist längst überfällig.
Hintergrund:
Seine Basis hat Erdoğan im islamistisch-nationalen wie auch dem rechtsextremen Lager. Seine Opfer, die zu tausenden inhaftiert und mit konstruierten Anklagen verfolgt werden, sind Menschen, die nicht in die vorgegebene Staatsdoktrin passen. Dazu gehören Journalist*innen, Politiker*innen demokratischer und oft kurdischer Parteien und jede*r mit eigener und kritischer Meinung gegen den Staatschef und sein Regime. Auch (vermeintliche) Anhänger*innen der Gülen-Bewegung, die jahrelang zentraler Partner der AKP-Regierung war und sich an der Unterdrückung politischer Gegner beteiligte, sind seit dem gescheiterten Putschversuch Verfolgungshandlungen ausgesetzt. Zudem steigt unter Erdoğan von Jahr zu Jahr die Zahl der Femizide und die Täter werden immer seltener strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Aus der Istanbul-Konvention ist die Türkei nach einem öffentlichkeitswirksam inszenierten Dekret Erdoğans ausgetreten.
In den kurdischen Gebieten der Türkei reiht sich eine gewaltvolle Razzia der türkischen Armee an die andere. Im Nordirak und im völkerrechtswidrig besetzten Nordsyrien befinden sich die kurdische Selbstverwaltung und die Zivilbevölkerung in einem Dauerbeschuss türkischer Drohnen und islamistischer Söldner in türkischem Auftrag.
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