Angesichts der eskalierenden und sich täglich verschlechternden Situation in Afghanistan und der Erkenntnisse einer heute veröffentlichten <link file:6488>Studie zur Gefährdungslage Abgeschobener fordert PRO ASYL das Auswärtige Amt auf, sofort einen neuen Lagebericht zu Afghanistan zu erstellen. Die Abschiebungen müssen gestoppt werden, zunächst der für Dienstag, 8. Juni, geplante Flug, aber auch alle weiteren. Die Studie, herausgegeben von Diakonie und Brot für die Welt, legt nahe, dass es immer mehr Gründe gibt, die Richtigkeit der bisherigen Ablehnungs- und Abschiebungsentscheidungen anzuzweifeln und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) Folgeanträge zu stellen. Der Vollzug von Abschiebungen basiert häufig auf zurückliegenden negativen BAMF-Entscheidungen. Doch nun liegen neue Gefährdungsgründe vor, die berücksichtigt werden müssen. PRO ASYL und Flüchtlingsrat SH fordern das BAMF daher auf, diese neuen Erkenntnisse einzubeziehen und die oft kurzfristig gestellten Folgeanträge sorgfältig zu prüfen.
Die Reaktion des Bundesinnenministeriums (BMI) auf die aktuellen Entwicklungen ist "unglaublich", so Günter Burkhardt, Geschäftsführer von PRO ASYL: „Anstatt realistisch die Situation in Afghanistan zu reflektieren, herrscht stoische Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Abgeschobenen. Fakten dürfen nicht länger verschwiegen werden, die Abschiebeflüge müssen ein Ende haben.“ PRO ASYL und Flüchtlingsrat rufen deshalb mit anderen Organisationen gemeinsam für morgen, den 5. Juni, auf zum Protest gegen die Abschiebungen nach Afghanistan auf.
Das BMI hat laut ARD-Tagesschau auf die Studie und die Entwicklungen reagiert und formuliert, die Bundesregierung verfolge "die Entwicklung in Afghanistan sorgfältig. Wie sich der Abzug der internationalen Truppen auf die Lage im Einzelnen auswirken wird, kann allerdings derzeit noch nicht abgeschätzt werden."
„In eine offensichtlich eskalierende, von Aufstandsgewalt und Überlebensrisiken gekennzeichnete Lage darf niemand abgeschoben werden. Die westlichen Truppen werden evakuiert und in Sicherheit gebracht. Dass aber Geflüchtete in das Krisengebiet abgeschoben werden sollen, ist ein Skandal", protestiert Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.. Auch dass die Bundesregierung, wie der <link https: ondemand-mp3.dradio.de file dradio verantwortung_fuer_afghanische_mitarbeiter_interview_dlf_20210604_0650_bd650bf9.mp3>Deutschlandfunk am 4. Juni einmal mehr berichtete, nicht einmal Sorge für alle durch Rachegewalt gefährdeten Ortskräfte übernehemen will, sei nicht hinnehmbar.
Gerichte bestätigen: Abschiebungen nach Afghanistan sind unzumutbar
Im <link file:6349>Lagebericht des Auswärtigen Amts von Juli 2020, auf dessen Grundlage das BMI die Lage für Abzuschiebende einschätzt, heißt es laut tageschau.de : Dem Auswärtigen Amt seien "keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden". Das ist mehr als verwunderlich, denn auch nach den Erkenntnissen der Langzeitrecherche sind aus Deutschland abgeschobene Afghanen einer erneuten Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt.Ihnen wird wegen der Flucht nach Europa Verrat, Verwestlichung, unmoralisches Verhalten oder die Abkehr vom Islam vorgeworfen, heißt es in der am 4. Juni veröffentlichten Studie. Eine neue, für Asylanträge fundamental wichtige Erkenntnis ist: Den Abgeschobenen fehlt das für das Überleben notwendige soziale Netz. Gerichte, darunter auch der Verwaltungsgerichtshof in Baden-Württemberg, haben festgestellt, dass abgelehnten Afghanen eine Rückkehr ohne ein stabiles familiäres oder soziales Netzwerk in Afghanistan nicht zuzumuten ist.
Eine aktuelle <link file:6488>Studie wurde von der Afghanistan-Gutachterin Friederike Stahlmann von der Universität Bern verfasst und dokumentiert die Erfahrungen zwischen Dezember 2016 und März 2020. Sie berücksichtigt noch nicht die sich täglich verschärfende Situation nach Bekanntgabe des Abzugs der westlichen Truppen sowie die Folgen der Coronapandemie.
Trotzdem halten das BMI und eine Reihe von Bundesländern bisher an Abschiebungen fest.
Die Landesregierung Schleswig-Holstein ist aufgerufen, sich bei der am 16. Juni in Rust anstehenden Innenministerkonferenz für eine robuste Bleiberechtsregelung zugunsten ausreisepflichtiger Afghan*innen einzusetzen", appelliert Link an Innenministerin Sütterlin-Waack. Der für Dienstag, den 8. Juni, vorgesehene Abschiebeflug wäre der 39. Flug seit Wiederaufnahme der Sammelabschiebungen im Dezember 2016, und müsse unter Verweis auf die aktuelle Erkenntnislage sofort abgesagt werden. In den letzten vier Jahren seien insgesamt 1.035 afghanische Männer in das Bürgerkriegsland zurückverfrachtet worden.
Weitere Verschärfung der Sicherheitslage durch den Abzug der internationalen Truppen
Die Befürchtungen, dass das Land nach dem am 4. Juli vollendeten Truppenabzug der USA vor einer völlig neuen, weiter eskalierenden Lage steht, bewahrheiten sich. Seit Beginn des offiziellen Abzugs der internationalen Truppen aus Afghanistan Anfang Mai hat sich die Gewalt im Land intensiviert. Die Taliban starteten in mehreren Provinzen Offensiven. Täglich werden Zivilisten Opfer des Konflikts. Zehntausende Menschen mussten UN-Angaben zufolge in den vergangenen Wochen aus ihren Dörfern und Städten vor den Kämpfen fliehen. Beobachter warnen, dass sich die Sicherheitslage in dem Land nach dem vollständigen Abzug der Nato-Truppen noch verschlechtert. US-Außenminister Antony Blinken äußerte gegenüber CNN die Befürchtung, das Land könne in einem Bürgerkrieg versinken und die erneute Machtübernahme durch die Taliban drohen. Expert*innen des Afghanistan Analyst Networks sehen ein hohes Gefährdungspotential für die afghanische Zivilbevölkerung. Angaben des afghanischen Nachrichtendienstes Tolonews zufolge wurden Anfang Mai innerhalb von nur 24 Stunden 141 Angriffe durch die Taliban gezählt. Im ersten Quartal 2021 wurden mehr als 570 Zivilisten getötet und 1210 verwundet. Das sind fast 30 Prozent mehr als ein Jahr zuvor.
Auch die wirtschaftliche Situation in Afghanistan ist desaströs und hat sich durch die Covid-19-Pandemie massiv verschlechtert. Laut dem stellvertretenden UN-Chef für humanitäre Hilfe hat sich die Zahl der Menschen in Not in Afghanistan von 9,4 Millionen Anfang 2020 auf 18,4 Millionen im Jahr 2021 verdoppelt – bei einer Bevölkerung von 40,4 Millionen. Im März 2021 befanden sich danach fast 17 Millionen Menschen in einer Krise oder einem Notstand der Ernährungssicherheit.
Zur Studie „Erfahrungen und Perspektiven abgeschobener Afghanen im Kontext aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen Afghanistans“ sowie Fallbeispielen:
https://www.frsh.de/fileadmin/pdf/Aktuelles/AFG_Monitoring-Studie_FINAL.pdf
Informationen zum morgigen Aktionstag:
https://www.frsh.de/artikel/5-juni-bundesweiter-aktionstag-gegen-abschiebungen-nach-afghanistan/
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gez. Martin Link, T. 0431-5568 5640, <link moz-txt-link-abbreviated>public@frsh.de