Mit Zustimmung der Bundesregierung haben die Innenminister*innen der EU am 8. Juni 2023 mit dem Entwurf eines „Gemeinsamen Europäischen Asylsystems“ (GEAS) kein bedarfsgerechtes Konzept von in der EU Schutz suchenden Frauen, Männern und Kindern vorgelegt, sondern einen Frontalangriff auf das Rechtstaatsprinzip und das nationale und europäische Flüchtlingsrecht geplant.
Die in der AG Stopp GEAS Schleswig-Holstein vernetzten zivilgesellschaftlichen Migrationsfachdienste und Organisationen konstatieren, dass mit der geplanten Reform ein menschenrechtliches Desaster geschaffen wird, indem Geflüchteten, anstatt ihnen Schutz zu gewähren, Asylzugänge vorenthalten und Betroffene an Verfolger- und autokratische Drittstaaten ausgeliefert werden.
Die AG Stopp GEAS Schleswig-Holstein spricht sich dagegen aus, dass im Gemeinsamen Europäischen Asylsystem künftig:
- auf dem Verordnungswege eine Rechtslage geschaffen werden soll, die den Mitgliedsstaaten keinen ihren Bedarfslagen gerechten positiven Spielraum bei abweichenden Vorschriften lässt.
- auf Grundlage einer Fiktion der Nichteinreise an den EU-Außengrenzen mit sogenannten Unterbringungszentren faktisch geschlossene Lager geschaffen werden, in denen Schutz-suchende inhaftiert und u.a. ohne Zugang zu Beratungs- und medizinischen Versorgungsangeboten isoliert werden sollen.
- dass dort Kinder und voraussichtlich auch viele unbegleitete minderjährige Geflüchtete inhaftiert werden, die aufgrund von falscher Altersein-schätzung oder falschen Angaben als volljährig eingeschätzt werden. Der Schutz dieser Minderjährigen kann so nicht gewährleistet werden und sie wären der Gefahr von Übergriffen und Ausbeutung ausgesetzt.
- kein Asylverfahrenszugang besteht, sondern in sogenannten Grenzverfahren zunächst ausschließlich die technische Zulässigkeit eines Asylgesuchs geprüft werden soll und ein Ausschluss allen denjenigen droht, die über einen vermeintlich sicheren Drittstaat eingereist sind, aus einem Staat mit weniger als 20% Asylanerkennungsquote kommen sowie Passlosen oder Kindern, die älter als 12 Jahre sind, und es keinen effektiven Rechtsschutz geben soll.
- das Dublin-System nicht nur durch verlängerte Fristen zusätzlich verschärft wird, sondern auch dadurch, dass unbegleitete Kinder rücküberstellt werden und ihr Rechtsschutz massiv eingeschränkt wird.
- willkürlich solche – auch autokratische – Staaten zu sogenannten sicheren Drittstaaten erklärt werden können, selbst wenn rechtsstaatliche Bedingungen nicht für alle und auch nicht im gesamten Staatsgebiet – mithin aber vielfältige Gefährdungslagen – herrschen, wenn es keinen Arbeitsmarktzugang, keine legale Wohnsitzgarantie und kein Recht auf Familieneinheit gibt – aber dorthin regelmäßig abgeschoben oder mittels Push Backs zurückgewiesen werden kann.
- die Schutzsuchenden – anstatt einer Glaubhaftmachung zu genügen – die volle Beweislast darüber trifft, welche drohenden Gefährdungen für Leib, Leben und Freiheit in dem vermeintlich sicheren Drittstaat ihnen drohen.
- zwischen den EU Mitgliedsstaaten (MS) kein effektiver Solidaritätsmechanismus greifen soll, sondern die MS sich mit Ablasszahlungen oder durch die Mitfinanzierung brachialer Grenzmilitärs in Drittstaaten aus der Aufnahme von Asylbewerber*innen stehlen können.
- Rückübernahmeabkommen mit Dritt- und Herkunftsstaaten geschlossen werden, ohne diese Vereinbarungen an Schutzvorkehrungen (z.B. Verbot von exekutiver Willkür oder der Kettenabschiebung), Kontroll- und Evaluierungsinstrumente und Rechenschaftspflichten zu binden, und damit für die Betroffenen erhebliche Verfolgungs- und Überlebensrisiken in Kauf genommen werden.
- dann, wenn die Not an Kriegsgewalt in Herkunftsländern, an Naturkatastrophen oder anderen Überlebensnöten und damit die Schutzbedarfe der Menschen am größten sind, per Aussetzung der Verfahren und Eskalation der Push Back-Praktiken die Abschottung der EU gegen Geflüchtete auf die Spitze getrieben wird.
- auf Grundlage des Rechts und einer menschenfeindlichen Bürokratie sich absehbar mehr Schutzsuchende in die Illegalität flüchten, anstatt eine bedarfsgerechte schutzgewährende und sozial angemessene Aufnahme zu erhalten.
Die AG Stopp GEAS Schleswig-Holstein lehnt die so geplante Verschärfung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vollständig ab.
Die Kritik der AG Stopp GEAS Schleswig-Holstein gilt auch und insbesondere mit Blick auf die offensichtlichen Versuche des Europäischen Rats und der Kommission mit der geplanten restriktiven Rechtslage den Forderungen rechter und rechtsextremistischer Interessengruppen innerhalb der EU zuvorzukommen.
Europa ist dabei, seine hart errungenen und in Reaktion auf den Nationalsozialismus entwickelten Werte nur noch für die eigenen Bürger*innen gelten zu lassen, nicht aber internationalen Schutzsuchenden zugänglich zu machen. Die europäischen Prinzipien werden aufgeweicht und Menschenrechte degenerieren in der Reform des GEAS zu willkürlichen leeren Hülsen. Europa entwickelt sich in den menschenfeindlichen Zustand zurück, den die Weltgemeinschaft unter anderem mit der Genfer Flüchtlings-konvention nie wiederaufkommen lassen wollte. Dabei gilt es, gerade mit Blick auf das aktuelle Erstarken rechter und rechtsextremistischer Kräfte in den EU Mitgliedsstaaten Solidarität mit Schutzsuchenden zu zeigen.
Wir rufen die Bundesregierung, die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, den Bundesrat und die Mitglieder des Europäischen Parlaments auf, im Zuge des laufenden Trilogs ihren Einfluss geltend zu machen, und sich für den Erhalt des asylgrundrechtlichen und internationalen Flüchtlingsschutzes ohne Wenn und Aber stark zu machen und einen Beschluss der Reform des GEAS zu verhindern.
Download: Die AG GEAS Schleswig-Holstein hat eine ausführliche Stellungnahme zum geplanten Gemeinsamen Europäischen Asylsystem erarbeitet: Stellungnahme "Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems – welche Auswirkungen haben die geplanten Änderungen?"
Unterzeichnende: Kiel, 14.11.2023
- Amnesty International Asyl-Gruppe Kiel
- Aufstehen gegen Rassismus Schleswig-Holstein
- Diakonie Schleswig-Holstein
- Flüchtlingsbeauftragte der Ev. Luth. Kirche in Norddeutschland
- Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.
- Gesellschaft für politische Bildung e.V. (Redaktion Gegenwind)
- lifeline – Vormundschaftsverein für unbegleitete minderjährige Geflüchtete e.V.
- Omas gegen Rechts, Regionalgruppe Kiel im Deutschland-Bündnis
- Refugee Law Clinic Kiel
- Refugio Stiftung Schleswig-Holstein
- Runder Tisch gegen Faschismus und Rassismus Kiel
- SEEBRÜCKE Kiel
- SEEBRÜCKEN Schleswig-Holstein
- ZBBS e.V., Kiel
Am 7.12.2023 hat die AG Stopp GEAS Schleswig-Holstein Lobbyschreiben an die MdEPs Hahn (FDP), Burkhardt (SPD), Demirel (Die Linke), Andresen (Grüne), Herbst (CDU), Lagodinsky (Grüne) und Breyer (Piraten) geschickt und sie aufgefordert, sich im Trilog gegen das GEAS stark zu machen.
Kontakt: AG Stopp GEAS Schleswig-Holstein, c/o Flüchtlingsrat SH, T. 0431-5568 5640, public[at]frsh.de