Auszug aus der 1. Rundmail des MSJFSGISH vom 20.1.2023:
"(...) in der vergangenen Woche wurde das Urteil des BVerwG bzgl. der Unzumutbarkeit der Passbeschaffung bei Erfordernis einer „Reueerklärung“ (Urteil vom 11.10.2022, Az.: BVerwG 1 C 9.21) veröffentlicht. Das Urteil finden Sie zu Ihrer Kenntnis im Anhang.
Im Folgenden habe ich Ihnen die wichtigsten Passagen zusammengestellt, kann aber nur empfehlen das Urteil im Ganzen zu lesen, da darüber hinaus wichtige Herleitungen und Abwägungen (z.B. zum Schutz vor einem Zwang zur Selbstbezichtigung) festgehalten wurden.
Im Vorfeld möchte ich darauf hinweisen, dass es sich bei dem Kläger um einen eritreischen Staatsangehörigen mit subsidiärem Schutzstatus handelt. Die Argumentation des BVerwG ist im Ergebnis nur auf subsidiär Schutzberechtigte anwendbar.
Das Berufungsgericht hat Rahmen dieses Urteils festgestellt, dass in der 'Reueerklärung' 'neben einem Ausdruck des Bedauerns oder Bereuens als solchem auch die Selbstbezichtigung einer Straftat - nämlich der nach eritreischem Recht strafbaren illegalen Ausreise – gesehen (wird). Jedenfalls im Hinblick auf diese Selbstbezichtigung ist dem Kläger die Abgabe der Erklärung gegen seinen ausdrücklich und plausibel bekundeten Willen entgegen der Auffassung der Vorinstanz nicht zumutbar.' (Rn. 17-18, 24.)
Im Fall dieses Klägers 'ergibt sich aus seinem Vortrag, dass die Abgabe der Reueerklärung im Widerspruch zu seiner inneren Einstellung steht und dass sie seiner Auffassung von guter politischer Ordnung und sozialer Gerechtigkeit zuwiderliefe; er lehne den eritreischen Staat und die Möglichkeit einer "Bereinigung der Verhältnisse" durch die Beantragung des Diaspora-Status ab (UA S. 19 f.). Weitergehende Anforderungen sind an die Plausibilisierung der Weigerung nicht zu stellen; insbesondere bedarf es nicht der Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung oder einer unauflöslichen inneren Konfliktlage.' (Rn. 31.)
'Sind mithin alle - positiven wie negativen - Voraussetzungen für die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer gegeben, ist der Beklagte verpflichtet, dem Kläger einen solchen zu erteilen. Nach § 5 Abs. 1 AufenthV steht die Erteilung des Ausweises zwar grundsätzlich im Ermessen der Ausländerbehörde. Bei subsidiär Schutzberechtigten ist dieses Ermessen jedoch in richtlinienkonformer Anwendung des § 5 Abs. 1 AufenthV auf Null reduziert, wenn auch die in Art. 25 Abs. 2 letzter Halbs. RL 2011/95/EU erwähnte Ausnahme nicht eingreift. Denn die Regelung verpflichtet die Mitgliedstaaten, Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist und die keinen nationalen Pass erhalten können, Dokumente für Reisen außerhalb ihres Hoheitsgebiets auszustellen, es sei denn, dass zwingende Gründe der nationalen Sicherheit oderöffentlichen Ordnung entgegenstehen…' (Rn. 35.)
Zusammenfassend ist subsidiär Schutzberechtigten eritreischen Staatsangehörigen die Passbeschaffung im aufenthaltsrechtlichen Verfahren nicht zumutbar, wenn Sie eine ausdrückliche und plausible Erklärung bzgl. der Unzumutbarkeit der Abgabe einer Reueerklärung abgeben. Weitergehende Anforderungen sind nicht zu stellen. Bei Vorliegen der Voraussetzungen ist ein Reiseausweis für Ausländer zu erteilen.
Diese Verfahrensweisen soll ab sofort auch von den schleswig-holsteinischen Zuwanderungs- und Ausländerbehörden angewandt werden. (...)"
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Auszug aus der 2. Rundmail des MSJFSIG SH vom 14.4.2023:
"...mit E-Mail vom 20.01.2023 haben wir Sie über die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts bezüglich der Zumutbarkeit der Abgabe einer Reueerklärung für eritreische Staatsangehörige informiert. Die damit verbundenen Anwendungshinweise möchten wir im Folgenden ergänzen:
- Die Abgabe einer Reueerklärung ist dann unzumutbar, wenn der/die Betroffene dies ausdrücklich und plausibel ablehnt. Eine weitergehende Glaubhaftmachung einer Gewissensentscheidung ist nicht zu fordern. Nach derzeitigem Kenntnisstand wird die Reueerklärung von Personen im dienstpflichtigen Alter, d.h. bei Frauen bis 47, bei Männern bis 57 Jahren gefordert. Zugleich lässt sich aus der Notwendigkeit der Abgabe einer Reueerklärung nicht automatisch die Unzumutbarkeit der Passbeschaffung folgern. Hierfür ist eine ausdrückliche Willensbekundung der/des Betroffenen im o.g. Sinne erforderlich.
- Die Unzumutbarkeit der Reueerklärung gilt unter den genannten Voraussetzungen unabhängig vom Aufenthaltszweck, Aufenthalts- und Schutzstatus.
- Mit der Feststellung der Unzumutbarkeit im o.g. Sinn liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des §5 Abs.1 AufenthV vor. In der Folge hat die zuständige Zuwanderungs- bzw. Ausländerbehörde eine Ermessensentscheidung über die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer zu treffen. Bei der Ermessensausübung ist das persönliche Interesse der Antragstellerin / des Antragstellers mit dem öffentlichen Interesse abzuwägen. Im Rahmen des öffentlichen Interesses ist die Personalhoheit des eritreischen Staates zu berücksichtigen. Die von rechtsstaatlichen Grundsätzen abweichende Strafverfolgungs- und Verwaltungspraxis des eritreischen Staates mindert hierbei die Schutzwürdigkeit seiner Personalhoheit.
- Bei subsidiär Schutzberechtigten ist das behördliche Ermessen auf Null reduziert, siehe hierzu auch die Ausführungen in der E-Mail vom 20.01.2023..."
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Materialhinweis:
Dr. Regine Nowack, Diakonie SH, hat einen Musterantrag auf Ausstellung eines Reiseausweise für Ausländer für subsidiär schutzberechtigte Eritreer:innen entworfen und Hinweise dazu verfasst: