Das inzwischen 25-jährige Verhältnis zwischen dem Kieler Innenministerium und dem Landesflüchtlingsrat beschrieb <link file:3902 file>Staatssekretärin Söller-Winkler am Samstag so: „Mit Höhen und mit Tiefen, mit Krächen und Demonstrationen, mit Versöhnungen und Neuanfängen, mit Streit ums Geld und mit Krisentelefonaten um Transitflüchtlingen in Lübeck … Langweilig war es jedenfalls nie.“
Der Einladung zu einem Empfang des Vorstands des seit 1991 bestehenden Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein am Samstag im Gästehaus der Landesregierung waren knapp hundert Mitglieder, Kooperationspartner_innen und Gäste aus Politik, Verwaltungen, Wissenschaft und Fachverbänden gefolgt.
Söller-Winkler betonte in ihrem Grußwort, dass es für das Kieler Innenministerium in den vergangenen 25 Jahren wichtig war, das konstruktive Gespräch nie abreißen zu lassen. Das sei anderenorts nicht selbstverständlich. Ja, es habe Zeiten gegeben, als „es Kolleginnen und Kollegen in anderen Ländern undenkbar schien, auch nur am selben Tisch mit einem Mitglied des Flüchtlingsrats zu sitzen um über einen Einzelfall oder – noch besser – den Menschen hinter diesem Fall zu sprechen“, erinnerte Söller-Winkler.
Mit Blick auf den Status quo erklärte Staatssekretärin Söller-Winkler: „Bund und Länder haben den gesetzlichen und politischen Auftrag, die organisatorischen Voraussetzungen der drei Säulen der Flüchtlingspolitik – Asylverfahren, Unterbringung und Integration – zu schaffen und ein ordnungsgemäßes Funktionieren zu gewährleisten.“ Wohl mit Blick auf die vielfach vorgetragene Kritik des Flüchtlingsrats und anderer Organisationen erklärt Söller-Winkler weiter: „Auch ich habe große Zweifel, ob die hektische Gesetzgebung dieser Monate den Zielen und Ansprüchen einer humanitären Flüchtlingspolitik zu diesen drei Säulen immer entsprochen hat. Und derzeit - ich nenne das Stichwort ‚Sichere Herkunftsländer‘ des Maghreb - entspricht.“
<link file:3903 file>Bernd Mesovic, stellvertretender Geschäftsführer der bundesweiten Flüchtlingslobbyorganisation PRO ASYL fing in seinem Grußwort diesen Ball auf. Man würde dem Flüchtlingsrat zum Jubiläum eine bessere flüchtlingspolitische Großwetterlage wünschen: „Der Frost der Restriktionen liegt über dem Land, seit eine gesetzliche Neuregelung die andere jagt, unter weitgehender Ausschaltung der (fach)-politischen Diskussion, inkonsistent und zukunftsblind, vor allem aber voller Zumutungen und Verunsicherungen für die Flüchtlinge.“
Da würden Flüchtlinge wieder zu Objekten staatlichen Handelns gemacht – wie in den schlimmsten Zeiten der Abschreckungsdoktrin in den 90er Jahren. „Da sehen Gesetze aus, als würde die AfD schon mitregieren“, mahnt Mesovic, „und Europa verrät in einem Wettlauf der Schäbigkeiten das, was es üblicherweise als die ‚westlichen Werte‘ propagiert.“
Aber Mesovic ist dennoch zumindest für Schleswig-Holstein hoffnungsvoll: „Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein hat in den vergangenen 25 Jahren mit brennender Geduld vieles erreicht, was sich nicht einfach beiseite wischen lässt. Insbesondere gilt das in einem Bundesland, in dem es sich immer noch lohnt, mit den politisch Verantwortlichen über die Lebensbedingungen von Flüchtlingen zu reden, einem Land, das Wert darauf legt, nicht beim Wettbewerb um die abschreckendsten Zustände mitzumachen. Auch das war nicht immer selbstverständlich und die lobbypolitischen Initiativen des Flüchtlingsrates sind wichtige Beiträge gewesen.“
Auch <link file:3904 file>Maria Brinkmann vom Lübecker Flüchtlingsforum, einer langjährigen Mitgliedsorganisation im Flüchtlingsrat, legte in ihrem Grußwort den Finger in offenbar nur vermeintlich verheilte, wieder aufgebrochene Wunden: „In den letzten Monaten müssen wir aber leider sehen, dass wir asylpolitisch in den 90er Jahren wieder angekommen sind. Die scheibchenweise Verschärfung der Gesetze wird hingenommen und die militärischen Abschottungsmaßnahmen an den Grenzen Europas machen uns fassungslos. In Teilen der Gesellschaft zeigt sich eine emotionale Verrohung, die teilweise auch bei politisch Verantwortlichen wahrzunehmen ist. Rassistische Übergriffe sind an der Tagesordnung.“
„Auf der anderen Seite“ betont Brinkmann, „haben gerade wir in Lübeck aber erlebt, mit welcher Kraft und mit welchem Mut die Flüchtlinge den Mauern und dem Stacheldraht getrotzt haben. Es geht um ihr Leben und um ihre Existenz.“ Der Herbst des vergangenen Jahres habe einmal mehr in der Zivilgesellschaft vorhandene Solidarität offenbart: „Wochenlang haben wir Tausende von Menschen bei ihrem Weg nach Skandinavien unterstützt, ohne öffentliche Unterstützung, aber mit Hilfe von vielen Menschen, die sich uns anschlossen und auch heute noch aktiv sind.“ Unverzichtbar für die Arbeit vor Ort sei auch die Unterstützung des Flüchtlingsrats.
<link file:3905 file>Prof. Dr. Aica Polat, Sozialwissenschaftlerin von der Fachhochschule Kiel krönte den Empfang zum 25-jährigen Bestehen des Flüchtlingsrates mit einem Festvortrag. Unter dem Titel „Offensive Humanität und Chancengerechtigkeit für alle!“ entwarf Polat Strategien künftiger Solidaritäts- und Antirassismusarbeit.
Ausgehend von der Analyse, es handele sich bei der EU-Flüchtlingspolitik im Wesentlichen um Flüchtlingsabwehrpolitik, konstatiert Polat einen Zusammenhang zwischen dieser Ausgrenzungsstrategie und dem verstärkten Aufkommen des „Neo-Rassismus“ in einzelnen EU-Ländern, auch in Deutschland: Die Wohlstandsfestung Europa fühle sich von den ‚Migrations- und Flüchtlingsströmen‘ bedroht. Die mediale und politische Inszenierung von ‚bedrohlichen Massen‘ solle Abwehrmechanismen legitimieren und habe zugleich das Ziel der Ent-Subjektivierung und Distanz zum einzelnen Menschen und eine breite Entsolidarisierung. Dies sei ein effektives Mittel zur Förderung von Vorurteilen und Stigmatisierungen bei ‚den Anderen‘.
Mit Blick auf die aktuelle Gesetzeslage, die Integrationschancen selektiv nach unterstellter „guter“, schlechter oder gar keiner „Bleibeperspektive“ vergibt, mahnt Polat: „Selektion und Hierarchisierung von Flüchtlingsgruppen ist eine Form von institutioneller Diskriminierung.“ Mit der Seifenblase „geringe Bleibeperspektive“ und Opfer von Krieg und Verfolgung mit integrationsfeindlichen Wohnsitzauflagen und Sanktionen zu bedrohen, erschöpft sich die aktuelle und darüber hinaus gegen die eigenen gesellschaftlichen Interessen gerichtete Flüchtlingspolitik.
Stattdessen bräuchte die Gesellschaft „eine Anerkennungskultur auf verschiedenen Ebenen“, forderte Prof. Polat. Eine nachhaltige Anerkennungskultur würde aber nur durch Wertschätzung und Partizipation erreicht. Polat zitiert ihren Kollegen Rosenstreich: „Durch Teilhabe werden Menschen an die Gesellschaft gebunden, in der sie leben. Es wird ihre Gesellschaft, mit der sie sich auseinandersetzen, der gegenüber sie eine Verantwortung empfinden”.
Im Anschluss an den Empfang fand die diesjährige öffentliche Mitgliederversammlung des Flüchtlingsrates statt. Geschäftsführer Martin Link referierte den <link http: www.frsh.de fileadmin pdf verein frsh_jahresbericht_2015_stand20160702.pdf external-link-new-window external link in new>Jahresbericht 2015 - eines in Flüchtlingsangelegenheiten aufregenden und doch mit Blick auf die politischen Vereinsziele – trotz aller Rückschläge – auch erfolgreichen vergangenen Jahres. Im Berichtsjahr standen dem Verein 850.000€ aus Förderungen des Landes, des Bundes, der EU und von privaten Organisationen für die Arbeit seiner Geschäftsstelle und in den Projekten zur Unterstützung von Flüchtlingsinitiativen, bei der Koordinierung von Netzwerken zur Arbeitsmarktförderung für Menschen mit und ohne Fluchtmigrationshintergrund und für die Schulungsangebote zur Interkulturellen Öffnung und Antidiskriminierung zur Verfügung. Der Verein hat 140 Mitglieder: Initiativen, Organisationen, beruflich im Feld der Migrations- und Flüchtlingsarbeit Tätige und ehrenamtlich engagierte Einzelpersonen.
Seit Beginn des laufenden Jahres erhält der Flüchtlingsrat im Rahmen des Landesförderprogramms Migrationsberatung Schleswig-Holstein Förderung für eine <link http: www.frsh.de external-link-new-window external link in new>Flüchtlingsberatungsstelle am Sitz des Vereins im Kieler Sophienblatt 82-86.
gez. Martin Link
Materialhinweis:
Anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Flüchtlingsrates hat der Verein eine Festschrift herausgegeben. In den 25 Beiträgen zu 25 Jahren haben neben Ministerpräsident Torsten Albig, dem Integrationsbeauftragten der Landesregierung Norbert Scharbach, dem Landesflüchtlingsbeauftragten Stefan Schmidt auch Vertreter_innen aller im Landtag vertretenen Parteien - selbst das Landesamt für Ausländer_innen und das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge - ihre jeweilige Perspektive auf den Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein in Grußworte gefasst. Aber auch Kolleg_innen aus Integrationsfachdiensten, Migrant_innenorganistaionen, Flüchtlingsinitiativen und Geflüchtete kommen zu Wort.
Die Broschüre „Festschrift? Festschrift!“ kann beim Flüchtlingsrat bestellt (<link>office@frsh.de) oder hier <link http: www.frsh.de artikel festschrift-festschrift external-link-new-window external link in new>als pdf-Datei heruntergeladen werden.