Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. ruft die sich am kommenden Sonntag zur Bundestags- und Landtagswahl stellenden KandidatInnen und Parteien zu einem Paradigmenwechsel in der Flüchtlings- und Migrationspolitik auf. Mit ihren "Flüchtlingspolitischen Eckpunkten zur Bundestags- und Landtagswahl 2009" (Anlage) legt die Organisation heute einen Katalog vor, mit dem sie die künftig regelmäßige Achtung der Menschenwürde und die Beseitigung diskriminierender Rechtslagen einfordert. "Die gegen Flüchtlinge gerichtete Unterbringungspraxis ist nicht zuletzt mit Blick auf die geringen Zahlen von in Bund und Land Asylsuchenden nicht mehr zu rechtfertigen." erklärt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. So fordert seine Organisation die Abschaffung der sog. ‚Residenzpflicht', die die Bewegungsfreiheit der Flüchtlinge auf Stadt- bzw. Kreisgebiete beschränkt und ihr Bemühen um nachhaltige Integration systematisch unterläuft. Gleichzeitig soll die Unterbringung von Flüchtlingen in der landeseigenen Kaserne in Neumünster zugunsten einer dezentralen Unterbringung in Wohnungen aufgegeben werden. In allen Kommunen existieren ehrenamtliche Unterstützungsinitiativen und Fachdienste in freier Trägerschaft, die sich bei der Beratung und Integrationsförderung von Flüchtlingen engagieren. "Diese Betreuungsangebote funktionieren indes nur, wenn Bund und Land ausreichend Fördermittel zu Verfügung zu stellen," gibt Martin Link zu bedenken. Die öffentliche Förderung müsse mehr und konsequenter als bisher auch bleiberechtsungesicherten Flüchtlingen zugute kommen. Insbesondere an die künftige Bundespolitik gerichtet fordert der Flüchtlingsrat, die Integration aller Flüchtlinge vom ersten Tag an zu fördern und für sie sämtliche Integrationsangebote zu öffnen. Der Flüchtlingsrat verlangt für langjährig Geduldete eine großzügige Bleiberechtsregelung. "Die geltende Gesetzliche Altfallregelung muss entfristet, von ausgrenzenden Stichtagen und administrativen Ausschlussgründen entschlackt werden." erklärt Martin Link. Sie soll die volle sozialer Teilhabe für alle Angehörigen unabhängig vom Alter gewährleisten. Sie soll tatsächlich geeignet sein, nachhaltig die sog. Kettenduldungen abzuschaffen.
gez. Martin Link
Anlage:
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V.:
<link http: www.frsh.de pdf frsh_eckpunkte.zur.wahl.2009.pdf>Flüchtlingspolitische Eckpunkte zur Bundestags- und Landtagswahl 2009
Die künftige Asyl- und Flüchtlingspolitik in Europa, im Bund und im Land muss die schon bekannten Fluchtursachen - politische oder nichtstaatliche Verfolgung, Krieg und rassistische Gewalt - ebenso anerkennen, wie die sog. neuen Fluchtgründe: Klimakatastrophe oder Überlebensnot als Globalisierungsfolge. Sie muss den Maßstäben von Humanität, der Achtung der Menschenwürde und Menschenrechte, einem respektvollen Verwaltungsumgang sowie dem nachhaltigen Schutz vor Verfolgung und Rückkehrgefährdung im eigentlichen Sinne des Wortes gerecht werden.
Erstaufnahme, Unterbringung und Residenzpflicht
In den Zentralen und anderen Gemeinschaftsunterkünften sollen Asylsuchende und Flüchtlinge längstens im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Frist leben müssen. Gleiches gilt für die Unterbringung der sog. illegal Eingereisten. In der Erstaufnahme soll eine behördenunabhängige öffentlich finanzierte qualifizierte Verfahrensberatung auch künftig vorgehalten werden. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, Eltern mit minderjährigen Kindern und alleinstehende Frauen gehören nicht in Gemeinschaftsunterkünfte. Überkapazitäten bei zentralen Unterkünften sollten abgebaut werden, anstatt sie mit Verlängerung der "Wohnverpflichtung" oder gar mit dem Betrieb sog. Ausreisezentren zu beantworten. Der Flüchtlingsrat fordert den Betrieb des sog. Ausreisezentrums in Neumünster zu beenden. Grundsätzlich soll die freie Wohnsitznahme für Flüchtlinge gelten - bis dahin sollen Flüchtlinge und ihre Familien dezentral in privaten Wohnungen untergebracht werden. Die sog. Residenzpflicht gilt es abzuschaffen - bis dahin soll regelmäßig für alle Betroffenen der zugewiesene Aufenthaltsbereich auf das gesamte Bundesland ausgedehnt werden.
Verwaltungspraxis
Die Verwaltungspraxis mit Flüchtlingen gibt weiterhin Anlass zur Besorgnis. Im Asylverfahren, beim unterlassenen Selbsteintritt gemäß der Dublin-II-Verordnung oder bei Widerrufen der Flüchtlingseigenschaft bleibt der Amtsermittlungsgrundsatz allzu oft unbeachtet. Zu fordern ist ferner mehr administrative ermessensmögliche Weitherzigkeit z.B. bei Anträgen auf Umverteilung oder bei Familienzusammenführungen, sowie die regelmäßige Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit z.B. bei der Berücksichtigung oder Begutachtung von Krankheit, beim Nachweis persönlicher Mitwirkung und nicht zuletzt im Zusammenhang mit der "Förderung der Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise" oder Durchsetzung anderer aufenthaltsbeendender Maßnahmen. Der Flüchtlingsrat fordert die Schaffung belastbarer Erlasslagen zur Durchsetzung einer humanitären und von Restriktionen freien Ausländerverwaltungspraxis.
Beratung, Betreuung, Förderung
In allen Kommunen bestehen Initiativen, Solidaritätsgruppen und hauptamtliche Einrichtungen insbesondere freier Träger, die sich u.a. die psychosoziale Betreuung, die Beratung und Begleitung von Flüchtlingen sowie die Vernetzung mit allen relevanten Akteuren zur Aufgabe gemacht haben. Der Flüchtlingsrat fordert von Bund und Land hier ausreichend Fördermittel zu Verfügung zu stellen. Gleiches gilt für landesweit wirkende Projekte sowie deren Netzwerkarbeit und die spezifische Versorgung so unterschiedlicher Bedarfsgruppen, wie z.B. traumatisierten und kranken Flüchtlingen und ehrenamtlichen MultiplikatorInnen. Im Verwaltungshandeln mit Kinderflüchtlingen soll regelmäßig das Kindeswohl größere Beachtung als das Aufenthaltsrecht bekommen. Im Bundesland soll eine Clearingstelle in freier Trägerschaft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge geschaffen werden. Die deutsche Vorbehaltserklärung gegen die vollständige Anwendung der UN-Kinderrechtskonvention muss zurückgezogen werden. Die öffentliche Förderung soll regelmäßig auch der Beratung und integrationsorientierten Begleitung von (noch) bleiberechtsungesicherten Flüchtlingen zugute kommen. Dabei ist die Subsidiaritätsprinzip angelegte Souveränität der Träger vollständig zu beachten. Die Förderung soll sich an den Bedarfen der Betroffenen statt an ordnungspolitischen Interessen orientieren. In diesem Sinne ist auch auf eine Nachhaltigkeit verhindernde Bürokratisierung zu verzichten.
Integration
Es ist von künftigen Bundes- und Landesregierungen zu fordern, die Integration der Flüchtlinge vom ersten Tag an und Status-unabhängig zu fördern und in diesem Sinne sämtliche Integrationsangebote zu öffnen. Eine solche Praxis entspricht einem angemessenen humanitären Umgang mit entwurzelten Menschen, auch bei nur vorübergehendem Aufenthalt. Gleichzeitig würde dieser Paradigmenwechsel der Tatsache gerecht, dass Flüchtlinge auch ohne Asylanerkennung bisweilen jahrelang bleiben, hier ihren Lebensmittelpunkt finden und nicht selten auf Grundlage tatsächlicher Integrationsleistungen ein Bleiberecht erhalten.
Arbeit und Ausbildung
Flüchtlinge mit noch nicht endgültig gesichertem Bleiberecht unterliegen beim Arbeitsmarktzugang vielfältigen rechtlichen Restriktionen und werden regelmäßig in die Armutsversorgung der öffentliche Hand gezwungen. Infolge leiden erwachsene Flüchtlinge unter fortgesetzter Dequalifizierung, Jugendliche verlieren jedwede Bildungschancen und werden unfähig berufliche Perspektiven zu entwickeln. Der Flüchtlingsrat lehnt die Praxis der Nachrangigkeit bei Vermittlung und Arbeitserlaubniserteilung, den Ausschluss von Leistungsbezug sowie das Arbeitsverbot für Flüchtlinge ab. Stattdessen sollen Qualifizierungs- und Beschäftigungsangebote für Flüchtlinge geöffnet und bei Bedarf spezifisch gefördert werden.
Bleiberecht
Bundesweit leben tausende, im Bundesland fast 2.000 Flüchtlinge, denen das erhoffte Asyl verweigert wurde, aber die dennoch Wurzeln geschlagen, sich in ihr soziales Umfeld integriert haben. Ihre Kinder sind hier zur Welt gekommen oder aufgewachsen. Der Flüchtlingsrat fordert für langjährig Geduldete eine großzügige Bleiberechtsregelung. Die geltende Gesetzliche Altfallregelung muss entfristet werden und statt stichtagsbezogen als rollierende Regelung ausgelegt sein. Sie soll einher gehen mit voller sozialer Teilhabe und ausnahmslos auch für alle Familienmitglieder - inkl. erwachsene Kinder und alleinstehende alte Angehörige - und unabhängig von vorausgesetzten Integrationsleistungen gelten. Sie soll frei sein von sozialen und administrativen Ausschlussgründen und geeignet sein, nachhaltig Kettenduldungen abzuschaffen.
Abschiebung
Der Flüchtlingsrat lehnt die Zurückschiebungs- und Abschiebungshaft ab. Der Flüchtlingsrat fordert, insbesondere die Inhaftierung von Minderjährigen sowie die Trennung von Paaren (mit und ohne Trauschein, auch gleichgeschlechtlichen) und Familien durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen oder Inhaftierung zu unterlassen.
Europa
Die Unterstützung Deutschlands bei der militärisch organisierten, bisweilen völkerrechtswidrigen und obendrein tausendfach opferreichen Abschottungspolitik an den Außengrenzen der Europäischen Union muss enden. Ebenso ist die Zusammenarbeit mit EU-Staaten zu unterlassen - z.B. im Zuge der Dublin-II-Verordnung -, die im Umgang mit Asylsuchenden bekanntermaßen gegen internationales Flüchtlingsrecht und die Menschenrechte verstoßen. Es soll die humanitäre Flüchtlingsaufnahme intensiviert werden - ein tragfähiges jährliches Resettlement-Kontingent ist anderenorts längst nationales Programm und soll auch in schleswig-holsteinischer Landessouveränität beschlossen und umgesetzt werden.
Solidarität
Humanitäre Flüchtlingshilfe ist nicht zuletzt mit Blick auf die deutsche Geschichte oberste Pflicht zivilgesellschaftlichen und staatlichen Handelns. Die Kriminalisierung und Bedrohung solidarischer Unterstützung von Flüchtlingen oder von sog. Illegalen mit juristischer Verfolgung ist - auch im europäischen Konzert - zu unterlassen. Humanitäre Hilfe ist niemals ein Verbrechen!
Kiel, September 2009
Mehr zum Thema zum download: <link http: www.frsh.de schl_48 s48_vi-xii.pdf>Interviews des Flüchtlingsrates mit Bundes- und LandtagskandidatInnen der Parteien zu flüchtlings-, migrations- und integrationspolitischen Fragen.