Am 11. Mai stellt die Abschiebungsbeobachtung der Diakonie Hamburg dem Innenausschuss der Hamburger Bürgerschaft den aktuellen Jahresbericht des Flughafenforums Hamburg vor. Dieses Gremium setzt sich aus Vertreter*innen öffentlicher Stellen und Nichtregierungsorganisationen aus den Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern zusammen.
Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein ist höchst erschrocken, welche Abschiebungsvollzugspraktiken in diesem Bericht insbesondere in Schleswig-Holstein bei der Vollstreckung von Flugabschiebungen offenbar geworden sind.
Gemäß Flughafenforum passieren im Abschiebungsvollzug unterschiedliche ggf. vollzugsbedingt eskalierende Problemlagen, wie z.B. fehlendes Dolmetschen, Selbstverletzungen / Suizidalität, defizitärer Umgang mit Kranken, kritische Versorgungssituation, (Un-)Verhältnismäßigkeit im Vollzug, Einsatz von Zwangsmitteln, Kindeswohlgefährdung, Familientrennungen, fehlendes Handgeld, Organisations- und Kommunikationsprobleme.
Immerhin ein Drittel der zwischen dem 1.2.2022 und dem 28.2.2023 von der Abschiebungsbeobachtung miterlebten Abschiebungsfälle (Abschiebungsfälle sind entweder Einzelpersonen oder Familien) wurden von der Beobachtungsstelle der Diakonie als problematisch identifiziert und dem Flughafenforum vorgelegt.
Im Jahresbericht werden 10 Beispiele aus drei im Flughafenforum vertretenen Bundesländern auf- und ausgeführt, die u.a. durch einen problematischen Verwaltungsvollzug gekennzeichnet waren.
„Immerhin die Hälfte dieser Fälle sind schleswig-holsteinischen Stellen zuzurechnen!“, gibt sich Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein alarmiert.
Im Einzelnen handelt es sich bei den 5 Fällen aus Schleswig-Holstein
- um einen afghanischen Familienvater mit Ehefrau und Kindern, die nach Spanien sollen. Der Mann wird mit „massiver Krafteinwirkung der Polizei“ „komplett gefesselt“ und im – im Ergebnis vergeblichen – Bemühen, den aufgebrachten Mann zu „beruhigen“, ihm dreimal zwangsweise Psychopharmaka verabreicht. Im Vollzug der Maßnahme wird der siebenjährige Sohn der Familie verschiedentlich als Dolmetscher missbraucht. Schließlich erfolgt der Abbruch der Familienabschiebung und die Einweisung des Mannes in die Psychiatrie. Seiner Ehefrau mit drei 2 bis 7-jährigen extrem verstörten Kindern wird Hilfe zur Abholung verweigert und anheimgestellt, die 150 KM lange Heimfahrt mit einem 380€ teuren Taxi zu bewältigen. Besonders pikant: Dieses Geld war der Frau von der Ausländerbehörde zuvor – trotz der Beschlagnahme sonstigen Geldes als Sicherheitsleistung für die Abschiebung – belassen worden. Weil offenbar die Behörde mit dem Scheitern des – erheblich teuren – Abschiebungsversuchs und der daraufhin notwendigen eigenständigen Familienrückfahrt von vornherein gerechnet hat.
- um einen offensichtlich psychisch erheblich belasteten, sichtbar zitternden jungen Syrer, der nach Griechenland sollte. Er „scheint apathisch und aufgewühlt zu sein“ und verletzt sich am Flughafen selbst offenbar so sehr, dass er erheblich blutet. Nach Abbruch der Abschiebung werden dem Betroffenen lediglich eine Bescheinigung zur Vorlage in seiner Unterkunft, aber weder Mittel noch Hilfe zur Rückkehr gewährt.
- um einen suchtkranken Afghanen, der ohne medizinische Hilfe, Medikation und in solchen Fällen vorgeschriebener ärztlicher Begleitung nach Schweden abgeschoben wurde – nur weil die Zuständigen im Abschiebungsgefängnis und die Abschiebungsvollzugskräfte offenbar nicht miteinander sprechen und sich niemand um das medizinisch Notwendige kümmerte.
- um eine weder Deutsch noch Englisch sprechende alleinstehende Afghanin, die, trotz einer kurz bevorstehenden Gebärmutter-Operation, ohne Hinzuziehung von Dolmetschhilfe nach Kroatien abgeschoben werden sollte – wo Geflüchtete bekanntermaßen regelmäßig keinerlei medizinische Hilfe erhalten – was erst nach ihrem „passivem Widerstand“ von der Bundespolizei abgebrochen wird.
- um einen Mann aus der Türkei, der im Glauben, eine Beschäftigungserlaubnis zu erhalten, einen Termin in der Ausländerbehörde wahrnahm, wo stattdessen schon eine „Schreibtischfestnahme“ zur Abschiebung vorbereitet war und erfolgte. Trotzdem der Mann am Flughafen offenbar eine halbe Flasche Benzin trinkt und erhebliche körperliche Probleme zeitigt, plädiert der hinzugezogene Rettungsdienst auf „flugreisetauglich“. Die Bundespolizei bricht schließlich die Maßnahme ab.
Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein fordert den schleswig-holsteinischen Landtag dringend auf, der Hamburger Bürgerschaft nachzueifern und sich im Innen- und Rechtsausschuss mit dem Jahresbericht des Flughafenforums zu beschäftigen und den Abschiebungsbeobachter der Hamburger Diakonie, Moritz Reinbach, anzuhören.
Der Flüchtlingsrat fordert von dem für Aufenthaltsbeendigung zuständigen Sozialministerium Schleswig-Holstein, die Verhältnismäßigkeit beim Abschiebungsvollzug in seinem Fachaufsichtsbereich in jedem Einzelfall zu gewährleisten und die bestehenden Strukturen einer zielführenden Überprüfung zu unterwerfen.
Die Ergebnisse des Berliner Flüchtlingsgipfels vom gestrigen 10. Mai nähren einmal mehr Befürchtungen über eine künftig regelmäßig restriktive gegen im Asylverfahren erfolglose Schutzsuchende aus nichteuropäischen Drittstaaten gerichtete Rückführungsoffensive und verschärfte Praxis bei Aufenthaltsbeendigungen und Abschiebungen. Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein wird in Kooperation mit der Abschiebungsbeobachtung der Diakonie Hamburg und der Flüchtlingsbeauftragten der Nordkirche am kommenden Samstag, dem 13. Mai 2023, in Neumünster einen 1. Workshop zu Problemlagen und Vernetzungsstrategien bei der Aufenthaltsbeendigung durchführen. Die Teilnahme ist kostenlos. Anmeldungen
und weitere Infos über www.frsh.de/artikel/workshop-aufenthaltsbeendigung
Kontakt: Martin Link, Tel. 0431-5568 5640, Mail: public[at]frsh.de, www.frsh.de