„Es ist meine Überzeugung, dass die Ausländerfeindlichkeit heute ein Menetekel viel tiefergehender sozialer Konfliktkonstellationen ist. Die Reduktion der Debatte auf die Asylrechtsfrage und technische und organisatorische Fragen der Asylrechtspraxis, so wichtig und notwendig diese Fragen sind, stellt eine Verkürzung und Verfälschung der wirklichen Problemlage dar. Ich beobachte ein Abnehmen der Fähigkeit, soziale Konflikte friedlich auszutragen. Wir müssen grundsätzlich lernen, neu über friedliche Lösungen in sozialen Konflikten, im Streit um das Teilen, im Verteilungskampf nachzudenken. Die erkennbare Mühe um soziale Gerechtigkeit wird eine elementare Voraussetzung dafür sein, dass wir Konflikte friedlich austragen können.“
Mit diesen Worten analysierte der sozialdemokratische Bundestagsabgeordnete Wolfgang Thierse in einer aktuellen Stunde des Deutschen Bundestags im Oktober 1991 die Hintergründe des Pogroms von Hoyerswerda. In der sächsischen Kleinstadt hatten zuvor im September 1991 bis zu 500 Personen über sechs Tage lang ein Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen sowie ein Flüchtlingswohnheim belagert und angegriffen. Die Polizei schritt nicht ein. Das Pogrom von Hoyerswerda war Auftakt einer Serie rassistisch motivierter Ausschreitungen Anfang der 1990er Jahre in der Bundesrepublik.
„Auch durch Lübeck und Mölln zog sich die Blutspur der rassistischen Attentäter“, erinnert Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein an die Brandanschläge auf Wohnstätten von Migrant*innen und Geflüchteten in Schleswig-Holstein 1992 und 1996. In den fast 30 Jahren zwischen Hoyerswerda und heute hat rassistische Gewalt in Deutschland und auch in Schleswig-Holstein mehr als 200 Menschen das Leben gekostet. Zuletzt fielen in Hanau im Februar 2020 zehn Menschen dem Rassismus zum Opfer.
Inzwischen nehmen Rechtsextremisten aber nicht nur Nichtdeutsche, sondern auch autochthone Antirassist*innen ins Fadenkreuz. Im NSU-Zusammenhang und bei den sogenannten Nordkreuzlern aus Mecklenburg-Vorpommern sind Todeslisten aufgetaucht, auf denen sich u.a. auch 29 schleswig-holsteinische Bürger*innen finden.
Die soziale Ungleichheit in Deutschland und der Welt hat in den letzten Jahrzehnten weiter zugenommen. Im andauernden Verteilungskampf sind gewaltsamer Rassismus und alltägliche rassistische Diskriminierung zu allgegenwärtigen Werkzeugen geworden. In die Hand nehmen sie diejenigen, für die Teilen ein Synonym für Verlust ist, und diejenigen, die ökonomisch oder sozial abgehängt worden sind und dafür andere als die Verantwortlichen verantwortlich machen: Flüchtlinge, Migrant*innen, Juden, Muslime, Sinti und Roma.
Die sozialen Medien, die in der aktuellen Debatte um Rassismus so sehr ins Zentrum gerückt werden, befördern Rassismus und rassistische Diskriminierung. Den sich dort verbreiteten Hass und die sich dort verbreitende Hetze einzudämmen und strafrechtlich zu verfolgen ist deshalb dringend erforderlich. Ursächlich für Rassismus und rassistische Diskriminierung sind die sozialen Medien allerdings nicht. Das lehren uns auch Hoyerswerda, Lübeck und Mölln!
Ursächlich ist die fortbestehende Weigerung von Teilen der politischen Klasse und der Gesellschaft, über „friedliche Lösungen in sozialen Konflikten, im Streit um das Teilen, im Verteilungskampf“ nachzudenken. Nirgendwo tritt diese Weigerung derzeit so klar und deutlich zutage wie an den Rändern Europa, wo Menschen wie Tiere gehalten und mit Waffengewalt daran gehindert werden, dieser Situation zu entkommen.
Aber auch in Halle und in Hanau ist sie zutage getreten, wo sich der vernichtende Hass von Abgehängten gegen diejenigen gerichtet hat, die in der öffentlichen Debatte von Rechtsextremisten, Rechtspopulisten, aber auch aus der bürgerlichen Mitte heraus fälschlicherweise zur Bedrohung für „unseren“ Wohlstand, „unser“ Glück und „unsere“ Sicherheit herabgewürdigt werden.
Solidarität, Gerechtigkeit und konsequenter Kampf gegen rechtsextremistische Gewalt sind die Gegenmittel zum Gift des Rassismus, das in unserer Gesellschaft existiert und schuld ist an alltäglicher Ausgrenzung und an vielen Verbrechen: von den Brandanschlägen in Mölln und Lübeck, zu den Untaten des NSU über den Mord an Walter Lübcke bis hin zu den Morden von Halle und Hanau.
Der „Internationale Tag gegen Rassismus“ erinnert, ermahnt und verpflichtet uns zum alltäglichen Kampf gegen Rassismus und zum alltäglichen Einsatz für Solidarität und Gerechtigkeit.
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