Zum Weltfrauentag am 8. März 2022 möchte der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V. insbesondere auf die speziellen Bedarfe von aus der Ukraine flüchtenden Frauen* in Schleswig-Holstein und bundesweit aufmerksam machen.
Im Laufe der vergangenen Jahre hat sich die vermehrte Fluchtbewegung von Frauen* unter anderem auch am Anstieg der Anträge auf Asyl bemerkbar gemacht: Mittlerweile werden über 40 Prozent der Asylanträge von Frauen* gestellt. Die aktuelle Zuwanderung insbesondere geflüchteter Frauen und Kinder aus der Ukraine wird diesen Trend absehbar verstärken.
Patriarchale Strukturen und bestehende Machtverhältnisse führen dazu, dass Frauen* und Kinder in Konfliktsituationen besonders vulnerabel sind. Untersuchungen haben gezeigt, dass sie sowohl in bewaffneten Konflikten und Kriegen als auch während der Flucht extrem häufig von Gewalt und geschlechtsspezifischer Diskriminierung betroffen sind. Neben sexualisierter Kriegsgewalt nimmt auch die Bedrohung durch andere Gewaltformen, wie häusliche Gewalt, zu.
In den Aufnahmeländern – auch hierzulande – bestehen deshalb Bedarfe vor allem in der Unterbringung, Versorgung, Traumabegleitung sowie an Plätzen und besonderer Sensibilität in Betreuungs- und Bildungseinrichtungen wie Kindertagesstätten und Schulen. Insbesondere alleinreisende Frauen laufen zudem Gefahr, Abhängigkeits- und Gewaltstrukturen im Aufnahmeland ausgeliefert zu sein. Hier bestehen für ukrainische Frauen besondere Risiken, weil sie auf Grundlage der i.d.R. bestehenden Visumsfreiheit nicht regelmäßig in zentralen Landesunterkünften wohnverpflichtet werden, sondern sich eigenständig auf Wohnungsangebote einlassen können.
Der Schutz vor potentieller Ausbeutung und Missbrauch muss ein zentrales Anliegen in der Unterstützung nicht zuletzt dezentral untergebrachter geflüchteter Frauen und Kinder sein. Ergänzt werden müssen Unterstützungsangebote regelmäßig durch adäquate Sprachmittler*innen und sprachsensible Beratungsangebote.
Durch die ukrainische Zwangsrekrutierung und das daraus resultierende Ausreiseverbot für Männer zwischen 18 und 60 Jahren sind es derzeit vor allem Frauen* und Kinder, die in die umliegenden Länder und auch nach Deutschland fliehen. In jedem Krieg verstärken sich gewalttätige Männlichkeitsideale durch Gewalt und Oppression, was ebenfalls Ausdruck eines patriarchalen Systems ist. Dadurch werden bestehende Rollenbilder reproduziert und manifestiert, was sich sowohl negativ auf die freiwillig mobilisierten oder zum Kampf verpflichteten Männer als auch auf die Frauen* und Kinder auswirkt. Diese Strukturen wirken nicht nur vor Ort, sondern setzen sich auf der Flucht weiter fort. Da der Nachzug der männlichen Familienangehörigen vorerst nicht absehbar ist, stellt die familiäre Trennung eine besondere Belastung dar, auf die sich Beratungsstellen einstellen müssen.
Die Erstarkung patriarchaler Strukturen in der Kriegssituation hat auch direkte Konsequenzen insbesondere für transgeschlechtliche Menschen. So sehen sich vor allem trans* Frauen bezüglich ihrer Ausreise aus der Ukraine mit einer besonderen Schwere der Situation konfrontiert. Ähnlich wie in Deutschland sind in der Ukraine zur Änderung des Geschlechtseintrages in den Ausweisdokumenten eine Reihe von langwierigen psychologischen und psychiatrischen Gutachten und medizinischer Untersuchungen notwendig, geschlechtsangleichende Operationen sind teilweise nur im Ausland möglich. Sofern noch keine Personenstandsänderung erfolgte, werden trans* Frauen folglich nicht nur an der Flucht gehindert, ihnen droht die Zwangsrekrutierung in die ukrainische Armee. Im Falle einer Flucht benötigen sie Schutz und angemessene Unterstützung. Daher fordern wir geschlechtssensible Beratung und adäquate Unterbringung sowie einen niedrigschwelligen Zugang zu psychosozialen Beratungs- und Versorgungsangeboten in Schleswig-Holstein.
Beratungsstellen sowie Migrant*innenselbstorganisationen mit geschlechtsspezifischen Unterstützungs- und Beratungsangeboten in Schleswig-Holstein, wie zum Beispiel der Kieler Treff- und Informationsort für Migrantinnen e.V. (TIO), Frauen helfen Frauen e.V., Regenbogenfrauen - Internationales Sozialnetzwerk, das Projekt Queer Refugees & Migrants (QUREMI) in der HAKI e.V. oder die mobile Beratungsstelle myriam in Kiel sollten in der sich über die nächsten Monate noch verstärkenden Bedarfslage mehr in den Blick genommen werden und sowohl strukturelle als auch finanzielle Unterstützung erhalten. Die essentielle Fürsorgearbeit, die durch diese Organisationen auch außerhalb von Krisensituationen geleistet wird, muss in eben solchen noch mehr Wertschätzung, auch in materieller Form, erhalten. Wir fordern somit eine geregelte und verlässliche Förderung von Migrant*innenorganisationen auf Landesebene.
Wir fordern das in Fragen der Flüchtlingsaufnahme im Bundesland federführend zuständige Ministerium für Inneres, ländliche Räume, Integration und Gleichstellung auf, die relevanten zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und Organisationen an einen runden Tisch einzuladen: Bedarfe und Strategien der Betreuung und Begleitung der aus der Ukraine einreisenden zentral und dezentral aufgenommenen Geflüchteten müssen identifiziert und solche Aktivitäten der Zivilgesellschaft und öffentlicher Stellen zielführend vernetzt werden.
Vermehrt sind auch in Deutschland russische Organisationen, Restaurants aber auch Russisch sprechende Frauen und Männer im öffentlichen Raum, nicht zuletzt Kinder an den Schulen, Anfeindungen ausgesetzt. Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. spricht sich gegen jegliche Diskriminierung von russischstämmigen oder -sprachigen Menschen aus und ruft auf zu einem reflektierten Umgang miteinander.
Für Informationen zu weiteren Anlaufstellen und aktuellen rechtlichen Rahmenbedingungen sowie Hinweise auf seriöse Hilfsangebote für Geflüchtete aus der Ukraine wurde eine eigene Seite auf der Homepage des Flüchtlingsrats eingerichtet.
gez. Ludmilla Babayan, Eva Biereder, Hanna Thorun, T. 0431-735 000, public@frsh.de, www.frsh.de