Der uns vorliegende Beschlussvorschlag des Bundeskanzleramts vom 6. Mai ist mit Blick auf die anstehenden Herausforderungen nicht zielführend. Das gilt nicht so sehr mit Blick auf die fortbestehende Bereitschaft zur Aufnahme und Unterstützung für europäische aus der Ukraine Geflüchtete.
„Doch unverhohlen richtet sich die Programmatik des Papiers insbesondere gegen Schutzsuchende aus nichteuropäischen Drittstaaten und stellt hier insbesondere auf Einreiseverweigerung, Grenz- und Zentrallagerinternierung, Schnellverfahren, Kollaboration mit Herkunftsregimen und systematische Abschiebung ab“, beklagt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.
„Beängstigend ist“, erklärt Link, „dass Länder und Kommunale Spitzenverbände bei ihrer in den Medien kommunizierten Kritik am Beschlussvorschlag des Bundes offenbar nur die Sorgen um weitere finanzielle Mittel umtreiben.“ Den Paradigmenwechsel von einer zumindest weitgehend grund- und völkerrechtstreuen Asylaufnahme- zu einer nationalen und europäischen Zurückweisungs- und Externalisierungspolitik sind alle offenbar vorbehaltlos bereit, mit zu gehen.
Zur Kritik am Beschlussvorschlag im Einzelnen:
1. Kompetenzbereich verändern?
Was sich in den Kapiteln 9 ff. des vorliegenden Entwurfs eines Beschlussvorschlags für die MPK wiederfindet, widerspricht in vielen Punkten den bisherigen Vorgaben und Festlegungen im Ampel-Koalitionsvertrag, bestehenden Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern und intendiert offenbar allein auf den Beifall der Stammtische.
Im MPK-Papier heißt es: „Der Bundeskanzler und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder stimmen darin überein, dass bestandskräftige Ausweisungen vollzogen werden müssen. Dazu werden die Kräfte in den Ländern gebündelt und alle wesentlichen mit Rückkehrfragen zusammenhängenden Aufgaben zentralisiert.“
Der Fetisch einer bundes- und länderzentralen Zuständigkeit für die Aufenthaltsbeendigung ist schon vor Jahren – auch als in Schleswig-Holstein versuchte Ausreisezentren – immer wieder gescheitert. Stattdessen hat sich bewiesen, dass die Zuständigkeit in den jeweiligen Kommunen, dort wo die Betroffenen i.d.R. seit Jahren wohnverpflichtet und inzwischen zuhause sind, Sinn macht. Eine zentralistische polizeibewährte Abschiebungsvollzugstechnokratie ist einer Autokratie, aber weder der Verfassungsidee noch dem Prinzip der föderalen Gewaltenteilung in der Bundesrepublik Deutschland angemessen.
2. Debatte um Ankerzentren wieder aufgewärmt
„Der Bundeskanzler und die Regierungschefinnen und Regierungschefs der Länder befürworten die Einrichtung zentraler Ankunftseinrichtungen, damit Rückführungen auch direkt aus diesen Einrichtungen heraus betrieben werden können“, ist im MPK-Papier zu lesen.
In Schleswig-Holstein ist dieses als Anker-Zentren bekanntgewordene Konzept aus guten Gründen wegen seiner Untauglichkeit sowohl für die Administrierung Asylsuchender wie auch wegen seiner Integrationsfeindlichkeit faktisch nie umgesetzt worden. Das sollte so bleiben.
3. Effektivierung von Abschiebungen versus Menschenwürde
Die Effektivierung von Abschiebungen wird Beschlussentwurf zur MPK priorisiert, ohne auch nur im Ansatz eine Abwägung vorzunehmen: Es seien „gesetzliche Regelungen, die Abschiebungsmaßnahmen verhindern oder zumindest erschweren, anzupassen“, ist die Kampfansage an die bis dato auch für formal ausreisepflichtige Schutzsuchende geltenden Verfassungs- und Rechtsstaats-Kultur.
Dazu gibt es, neben der mit der abstrusen Behauptung, dass dort „weder politische Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Bestrafung oder Behandlung“ stattfinde, colorierten Ankündigung, so fragile Staaten wie Georgien und Moldawien zu „sicheren Herkunftsländern“ zu erklären, einen umfassenden Katalog von geplanten Rechtsänderungen, die darauf hinauslaufen, Abschiebungshaft zu erleichtern, ggf. zu verlängern und Rechtshilfen zu beschneiden.
Behörden sollen ungestört Razzien vollstrecken können, indem sie „auch andere Räumlichkeiten, als das Zimmer des Betroffenen in der Unterkunft betreten können“, wenn es darum geht, mit Polizeigewalt Männer, Frauen und Kinder auch zur Nachtzeit abzuholen. Das bedeutet im Klartext: Wenn eine Abschiebung aus der GU nachts um 3 Uhr unangekündigt vollzogen wird, sollen alle Bewohner*innen damit rechnen müssen, aus dem Schlaf gerissen und von rüden Identitätsfeststellungen behelligt zu werden.
Hier wird deutlich, dass die Autor*innen des Entwurfspapiers nicht auch nur im Ansatz eine Vorstellung davon haben, was solche Überfälle für Erwachsene und Kinder bedeuten, die Verfolgung und gegen sie gerichtete Gewalt entkommen sind und jahrelang in beengten Großunterkünften wohnverpflichtet leben müssen. Abgesehen davon, dürfte solch eine Regelung mit dem durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK; Art. 8) und aus Art. 1 des Grundgesetzes abgeleiteten garantierten Schutz des Privatlebens nur schwer vereinbar sein.
4. Organisierte Gefährdung von Datenschutz- und Persönlichkeitsrechten
Ungeachtet der bisherigen Erfahrungen mit wirkungslosen und verfassungsrechtlich fragwürdigen Verfahren des Auslesens von Handys etc. soll dieser sehr weitgehende Eingriff in die Persönlichkeitsrechte noch frühzeitiger und wiederholt ermöglicht werden.
Sämtliche personen- und verfahrensbezogene Daten der betroffenen Ausländer sollen im Ausländerzentralregister (AZR) jeglichen – möglicherweise auch solchen mit Herkunftsländern und dortigen öffentlichen Stellen kollaborierenden – Behörden zu jeder Zeit und zu jedem Zweck zugänglich sein. Das beträfe auch sämtliche im Vertrauen auf ihre Nichtweitergabe von den Betroffenen gemachten hochsensiblen Aussagen aus dem Asylverfahren.
5. Legitimierung von Pushbacks und Grenzverfahren
In Kap. 12 geht es dann um „eine bessere Kooperation auf europäischer Ebene“. Dazu zählt das Papier ganz selbstverständlich und ohne jeden Bezug auf die jetzt schon verheerende Praxis des opferreichen europäischen Grenzregimes mit Lagerinternierung unter unsäglichen Bedingungen und systematischen rechtswidrigen Pushbacks auch die Etablierung eines „verpflichtenden“ Asylgrenzverfahrens „an den EU-Außengrenzen“. Die im Text genannten Bedingungen (höchstens dreimonatiges Verfahren plus 2 Wochen für Rechtsbehelf) sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind.
„Wen soll das überzeugen? Solche Fristen funktionieren schon jetzt in keinem EU-Asyl-Frontstaat und werden selbst in Deutschland regelmäßig gerissen. Wer soll sie garantieren? Wer soll ein faires Asylverfahren an den Grenzen gewährleisten? Welche Möglichkeiten bekommen Betroffene, wenn die Theorie scheitert? Das Ganze ist ein asylpolitischer Sündenfall. Die Verantwortung für das Asylgrundrecht wird an die Außengrenzen abgeschoben“, protestiert Martin Link.
6. Mit vereinten europäischen Kräften Abschottung perfektionieren und Ungleichbehandlung zementieren
Gemäß Kap. 13 soll die faktisch gescheiterte Dublin III – Verordnung wiederbelebt werden. Obwohl klar ist, dass die EU-Randstaaten sich gegen die Zuweisung der Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren in Europa wehren und das Konzept auf alle möglichen Weisen unterlaufen, fällt dem Bundeskanzleramt nichts besseres ein, als eine Reanimierung dieses vollständig gescheiterten Konzepts.
Kapitel 14 des Beschlussvorschlags thematisiert flüchtlingsfeindliche „Maßnahmen für einen besseren Schutz der Grenzen“, wozu das Papier umstandslos auch die Unterstützung der Mitgliedstaaten „beim Ausbau von Grenzschutzkapazitäten und Grenzinfrastruktur“ sowie von „Mitteln für die Überwachung und Ausrüstung“ zählt – also offenbar auch Mauern und Stacheldraht, dazu Grenzkontrollen, Einfluss auf die Visumpraxis von Nachbarstaaten und die Abordnung von Beamt*innen „im Rahmen der Vorverlagerungsstrategie“.
Soll die gute Erfahrung, dass die Aufnahme von ukrainischen Geflüchteten auf der Basis von free choice-Konzepten und unter Einbeziehung der Selbsthilfekräfte der Betroffenen wie auch der Unterstützungsbereitschaft der Zivilgesellschaft viel bessere Ergebnisse zeitigt, systematisch nichteuropäischen Schutzsuchenden vorenthalten werden?
„Eine Politik, die schutzsuchende Menschen aus Gewaltherden unterschiedlicher Kontinente derart selektiv ungleich behandelt, hat nicht nur jeglichen humanitären und demokratischen Anstand, sondern auch das Recht, sich auf europäische Werte zu berufen, verspielt“, mahnt Martin Link.
Der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein fordert die Landesregierung auf, am 10. Mai im Bundeskanzleramt ihr Einvernehmen mit einer solchen restriktiven, systematisch auf die Zukunftsverhinderung von geflüchteten Männern, Frauen und Kindern aus nichteuropäischen Drittstaaten zu verweigern und sich nicht an einem solchen asylpolitischen Sündenfall zu beteiligen.
Kontakt: Martin Link, Tel. 0431-5568 5640, Mail: public[at]frsh.de, www.frsh.de
Letzte Meldung vom 11.5.2023: