Über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren am 23. November der Einladung der Veranstaltenden zur Tagung „Wirtschaftsfaktor Flüchtlinge“ in die IHK zu Kiel gefolgt.
Unter dem Eindruck weltweiter Fluchtbewegungen und von Diskussionen über Aufnahmebereitschaft und Integrationsfähigkeit Deutschlands sollte die Tagung einen Beitrag zur Versachlichung leisten. Gerade zur Frage, welche wirtschaftlichen Aspekte mit der Flüchtlingszuwanderung einhergehen, besteht regelmäßige Uneinigkeit in der politischen und medialen Debatte.
Die Veranstaltenden warteten mit hochkarätigen Referentinnen und Referenten auf:
Der Hausherr Hans Joachim Beckers, Geschäftsbereichsleiter der IHK zu Kiel und Federführer Bildung der IHK Schleswig-Holstein, wies in seiner Begrüßung darauf hin, dass Flüchtlinge ein milliardenschwerer Faktor in der nationalen Wirtschaft seien. Bei gelingender Integration könne ein Beitrag zur Reduzierung der Fachkräfteengpässe erwartet werden. Die Flüchtlingszuwanderung trage auch zur intensiveren weltweiten Vernetzung der deutschen Wirtschaft bei. Die Kenntnis von Gepflogenheiten anderer Kulturen helfe bei der Anbahnung neuer Geschäftspartner und Kunden im In- und Ausland. Die Wirtschaft sehe in der Zuwanderung neben der Herausforderung der Integration auch große Chancen.
Finanzministerin Monika Heinold beschwor die gemeinsame Verantwortung. Diese leite sich allein aus unserer das Menschsein ausmachenden humanitären Verantwortung ab. Aber Deutsche seien darüber hinaus auch mitverantwortlich für weltweite Fluchtursachen: z. B. Klimaveränderungen, negative Globalisierungsfolgen und Gewalt. Und schließlich sei Deutschland reich und somit auch in der Lage, konsequent und nachhaltig Verantwortung zu übernehmen.
Ministerin Heinold erklärte, dass für die Landesregierung im Wesentlichen zwei Grundsätze gelten: Humanität solle in Schleswig-Holstein nicht am Geld scheitern und keine Sparmaßnahme im Landeshaushalt solle zugunsten der Flüchtlingsaufnahme passieren. 537 Mio. Euro für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen seien als dauerhafter Posten in den künftigen Jahreshaushalten vorgesehen. Mit dem Bund hätten sich die Länder dahingehend geeinigt, dass im Ergebnis für Schleswig-Holstein zunächst bis 2018 ca. 68 Mio. Euro zusätzliche jährliche Bundesmittel für die Flüchtlingsintegration zu Buche schlagen. Hier müsse das Land den Bund aber noch längerfristig in die Pflicht nehmen, betonte Heinold.
Stefan Schmidt, Landeszuwanderungsbeauftragter, listete auch im Bundesland feststellbare positive ökonomische Effekte auf: push-Faktor für den sozialen Wohnungsbau nicht nur in Ballungszentren, Beschäftigungszuwachs im Zuge des Aufnahmeregimes und eine robuste Struktur unschätzbarer ehrenamtlicher Arbeit. Bundesweit 30 Millionen in der Flüchtlingshilfe engagierte Ehrenamtliche stellten einen erheblichen nicht-monetären gesellschaftlichen Mehrwert dar.
Letztere würde volkswirtschaftlich allerdings nicht quantifiziert und bei der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht berücksichtigt, kritisierte Dr. Thieß Petersen von der Bertelsmann-Stiftung. Der messbare finanzielle Aufwand für Flüchtlinge führe zu einem Wachstumseffekt von 0,4 bis 0,5 % und einem Zuwachs der Sozialversicherungsbeschäftigten von 2,4 %. Falsch sei indes, dass Flüchtlingszuwanderung zu einer Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt geführt oder von ihr ein negativer Druck auf das Lohnniveau stattgefunden habe. Auch sei keine automatische Zuwanderung in die Sozialkassen festzustellen. Allein mit Blick auf die demographische und die Arbeitskräftebedarfsentwicklung lohne sich die Flüchtlingsaufnahme mittelfristig, betont Petersen. Allerdings gelte es, tatsächlichen und gefühlten Konkurrenzen in Teilen der Bevölkerung bzgl. preiswerten Wohnraums, Angeboten im Niedriglohnsektor oder Leistungen des Wohlfahrtsstaates seitens der Politik durch kluge Entscheidungen proaktiv zu begegnen.
Am BIP hätten die Ausgaben für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, erklärt Prof. Dr. Matthias Lücke, Senior Researcher am Institut für Weltwirtschaft in Kiel, mit 20 Mrd. Euro einen Anteil von 0,6 %. Für eine Volkswirtschaft, die sich mit einem Anteil von 1,4 % am BIP einen erheblichen nicht wertschöpfenden Posten für Militärausgaben leiste, sei das kein zu hoher Preis der Humanität.
Aus Sicht der Wirtschaftswissenschaft gelte es, so Lücke, ein paar Missverständnisse zu klären: Flüchtlinge seien keine Job-Räuber, sie garantierten nicht die Zukunftssicherheit unseres Rentensystems und auch mit Blick auf die Arbeitsmarktentwicklung hätte die Flüchtlingszuwanderung nur geringen und eher langfristigen positiven Einfluss. Flüchtlingszuwanderung sei also kein Super-Geschäft – und das sei auch gut so, befindet Lücke: Denn damit gäbe es kein seriöses Argument, Flüchtlinge nur nach ökonomischen Nützlichkeitskriterien bei Aufnahme und Integration zu selektieren.
Torsten Geerdts, Vorsitzender der LAG der Freien Wohlfahrtsverbände, betonte den Imagegewinn, zu dem die Flüchtlingsaufnahme insbesondere seit 2015 geführt habe. Darüber hinaus hätte der Druck zur Bewältigung der sich stellenden Aufgaben zu einem stärkeren und konstruktiven Miteinander von öffentlichen Stellen, freien Trägern und der Zivilgesellschaft insgesamt geführt.
„Flüchtlingshilfe ist ein Konjunkturprogramm für mehr Mitmenschlichkeit in der Gesellschaft“, bilanziert Geerdts. Auch hätte die ungeahnt steigende Nachfrage innovative Kraft entfaltet und zu erheblich „mehr Tempo“ in den Verbänden geführt. 59.000 Beschäftigte gäbe es dort zur Zeit. Bei einem absehbaren altersbedingten Rückgang von ca. 16.000 in den kommenden zehn Jahren werde sehr deutlich, dass auch die Wohlfahrtsverbände mittelbar von einer erfolgreichen Bildungs- und Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge und anderen Zuwandernden profitieren.
Staatliche Investitionen in die Potenziale und Hilfekompetenzen sowohl in den Verbänden als auch in der Gesellschaft seien unschätzbare Wirtschaftsfaktoren, befindet Geerdts. Dafür gelte es auch, vorhandene Strukturen zu verstetigen: Zum Beispiel sei die Arbeit des Flüchtlingsrates und des Landeszuwanderungsbeauftragten auch über die Legislaturperiode hinaus unverzichtbar.
Einigkeit herrschte bei fast allen Vortragenden über bestehende Handlungsbedarfe: Das Ausbildungssystem müsse dringend interkulturalisiert werden. Bildungs- und Arbeitsmarktzugänge müssten erleichtert und dementsprechende Förderangebote verstärkt werden. Die Selektion zwischen guter und schlechterer Bleibeperspektive sei volkswirtschaftlich falsch – stattdessen sollten die positiven Effekte der Bildungs- und Arbeitsmarktförderung auch für Menschen mit nur vorläufigem Aufenthalt angestrebt werden. In den Konzepten sollte darüber hinaus realisiert werden, dass für eine nachhaltige und auf Dauer angelegte Integration ein Zeitraum von fünf bis zehn Jahren zugrunde gelegt werden sollte. Eine lediglich prinzipiell begründete Externalisierungspolitik gegenüber Menschen, die erhebliches Engagement bei der Integration beweisen, sei falsch und auch volkswirtschaftlich selbstschädigend
Konsens bestand ebenso darin, dass es dringlich sei, anstatt eines in jedem Haushaltsjahr wiederkehrenden Hauen und Stechens um die Finanzierung der Flüchtlingsintegration zwischen Bund und Ländern ein langfristiges über die Befristung von Legislaturperioden hinaus schauendes Finanzierungssystem zu schaffen. Ob dies im Zuge einer wie von Professor Rudolf Hickel aus Bremen oder dem Sozialdemokraten Franz Müntefering vorgeschlagenen Gemeinschaftsaufgabe unter Fortschreibung des Soli geschehen solle, blieb unter den in Kiel diskutierenden Expertinnen und Experten umstritten.
Die Veranstaltenden sind nach der erfolgreichen Tagung mehr denn je davon überzeugt, dass Flüchtlinge uns nicht allein humanitäre Verpflichtung seien sollten, sondern auch einen beachtlichen Wirtschaftsfaktor darstellen, und – eine kluge Integrationspolitik vorausgesetzt – sie ein Gewinn für die Gesellschaft sind.
Die Tagung wurde veranstaltet von dem Beauftragten für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen des Landes Schleswig-Holstein, dem Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V., der IHK Schleswig-Holstein, dem IQ Netzwerk Schleswig-Holstein, dem Netzwerk Mehr Land in Sicht! – Arbeit für Flüchtlinge in SH, der Landesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtsverbände Schleswig-Holstein e. V. und der Türkischen Gemeinde in Schleswig-Holstein e. V.
Eine Tagungsdokumentation wird demnächst online auf <link http: www.frsh.de>www.frsh.de veröffentlicht.
Im Namen der Veranstalterinnen und Veranstalter gez. Martin Link, Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V.
Pressekontakt: Jasmin Azazmah, Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e. V., T. 0431 55685360, <link>public@frsh.de