Auf der 193. Sitzung der Ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder am 08./09.12.2011 in Wiesbaden wurde die Einführung eines permanenten Neuansiedlungsprogramms (Resettlement) zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Nordafrika in Deutschland beschlossen. In diesem Beschluss "empfiehlt die IMK, in den nächsten drei Jahren jährlich jeweils 300 Flüchtlinge aufzunehmen." Am 5.4.2012 folgte eine Anordnung des Bundesministeriums des Innern zur Aufnahme vor dem Krieg in Libyen nach Choucha (Tunesien) geflüchteter Personen1. 201 Menschen aus diesem Wüstenlager, konnten dann Anfang September 2012 nach Deutschland kommen und wurden auf die Bundesländer verteilt.Dieser Beschluss war das Ergebnis von Appellen sowohl des UNHCR als auch von Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, darunter Afrique-Europe-Interact, PRO ASYL und medico international, die im Mai 2011 den Aufruf "Fluchtwege öffnen, Flüchtlinge aufnehmen! - Voices from Choucha" veröffentlicht hatten2 . PRO ASYL begrüßte damals die Entscheidung "als einen Schritt in die richtige Richtung, der aber leider viel zu klein ausfällt. (...) Allein für das Jahr 2012 benötigt das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) weltweit 172.000 Resettlementplätze." Besonders dringend gelöst werden müsse das Problem der subsaharischen Flüchtlinge, die nach Flucht und Vertreibung aus Libyen immer noch <link http: www.proasyl.de de themen downloads multimedia voices-of-choucha>im Lager Choucha auf der tunesischen Seite der Grenze leben und nicht in ihre Herkunftsländer zurückkehren könnten.3
Im Spätherbst 2013 leben im offiziell geschlossenen Lager Choucha immer noch ungefähr 400 Menschen, unter ihnen Kinder und Kranke - nach Angaben von UNHCR und IOM (International Organisation for Migration) 135 anerkannte Flüchtlinge und 262 abgelehnte Asylsuchende. Die Versorgung mit Nahrungsmitteln, Wasser, medizinischer Hilfe und Strom wurde vom UNHCR zum 30.6.2013 beendet, alle Infrastruktureinrichtungen sind zerstört. Flüchtlinge versuchen jetzt verzweifelt, vorbeifahrende Autos anzuhalten und um Nahrungsmittel und Wasser zu betteln.
Mit ihrem weiteren Aufenthalt im Lager Choucha und mit einem seit mehr als sechs Monaten andauernden Sit-in vor dem UNHCR-Büro in Tunis fordern die Flüchtlinge, für alle von ihnen eine dauerhafte Lösung in Ländern mit einem wirksamen Asylsystem zu finden. Denn die vom UNHCR angebotene sogenannte "lokale Integration" in Tunesien funktioniere nicht. Nicht allein, weil hierfür gar keine Rechtsgrundlage besteht. Bisher ist unklar, wann und ob überhaupt die zugesagten Aufenthaltserlaubnisse ausgestellt werden und ob sie tatsächlich vor Abschiebung und Polizeiübergriffen schützen würden. Darüber hinaus haben "lokal integrierte" Flüchtlinge kein Recht auf Familiennachzug. Ihnen versprochene Unterstützung im täglichen Leben, z.B. Hilfen bei der Arbeitssuche oder Unterkünfte wurden nicht gewährt.
Die Situation in Tunesien ist weiter instabil. Politisch motivierte Morde und fehlende ökonomische Entwicklung führen zu einem Mangel an Sicherheit für Tunesier_innen und noch mehr für Flüchtlinge und andere Menschen aus Subsahara-Afrika, die zusätzlich alltäglich mit Rassismus konfrontiert sind. Rassistische Tendenzen in der tunesischen Gesellschaft werden durch die Konkurrenz um kaum vorhandene Arbeitsplätze noch verstärkt.
Abgelehnte Asylsuchende, die aus politischen und/oder sozialen Gründen nicht in ihre Herkunftsländer zurück können, werfen dem UNHCR schwerwiegende Fehler in ihren Verfahren vor, die zu ihrer Ablehnung geführt hätten. In einigen Fällen wurden zum Beispiel Dolmetscher eingesetzt, die von der anderen Seite eines Konflikts in ihren Herkunftsländern kamen. Außerdem wurden die Verfahren oft überstürzt und von unerfahrenem Personal durchgeführt.4
Am Scheitern der sogenannten "lokalen Integration" und angesichts zunehmender Diskriminierung in Tunesien verzweifelte Menschen versuchen ihr Glück als Passagiere auf "illegalen" Bootsüberfahrten über das Mittelmeer und riskiren damit ihr Leben5.
Am 3. Oktober starben mehr als 300 Menschen, nachdem ein Boot mit Hunderten von Flüchtlingen vor der Küste der italienischen Insel Lampedusa untergegangen war. Politiker_innen riefen daraufhin EU-Mitgliedsstaaten dazu auf, "Solidarität zu zeigensowohl mit Migrant_innen als auch mit Ländern, die steigende Migrationsströme erleben" (C. Malmström). Und der Papst nannte das, was vor Lampedusa geschah, "eine Schande". Immer mehr Menschen fordern, endlich legale Fluchtwege zu öffnen, um den Tod von noch mehr Menschen zu verhindern, statt Europa immer mehr abzuschotten.
Im Gegensatz zum Rat der EU, in dem nicht zuletzt Deutschland Entscheidungen für eine Änderung der Politik zur Flüchtlingsaufnahme blockierte, hat das EU-Parlament am 23.10.2013 unter anderem beschlossen, "Asylsuchenden einen sicheren und fairen Zugang zum Asylsystem der Union zu ermöglichen" und dem akuten Bedarf an mehr Resettlementplätzen durch zusätzliche nationale Quoten und humanitäre Aufnahme nachzukommen.6
Die verbliebenen Flüchtlinge in Choucha und vor dem UNHCR-Büro in Tunis sind dem UNHCR und den Behörden namentlich bekannt. Ihre Verzweiflung wächst mit dem nahenden Winter. UNHCR und europäische Regierungen machen sich mitschuldig am Tod dieser Menschen, wenn ihnen keine menschenwürdige Lösung angeboten wird und sie keinen anderen Ausweg sehen als ihr Leben bei einer Bootsüberfahrt nach Europa zu riskieren.
Wir fordern deshalb von den Innenministern des Bundes und der Länder:
Die verbliebenen Flüchtlinge aus dem Lager Choucha umgehend im Rahmen des von der IMK beschlossenen Resettlement-Programms in Deutschland aufzunehmen;
Angesichts der dramatischen Lage in Nordafrika und in anderen Herkunfts- und Transitländern von Flüchtlingen sowie der Tausenden von Toten auf dem Mittelmeer die Zahl der Aufnahmeplätze in Deutschland entscheidend zu erhöhen;
Sich auf Bundes- und EU-Ebene für einen sicheren Zugang nach Europa, z.B. auch über Anträge bei den deutschen Botschaften im Ausland, auf dem Meer und an den Grenzen, einzusetzen.
Flüchtlinge aus dem Lager Choucha in Tunesien werden in den nächsten Tagen um eine Vorsprache bei der Deutschen Botschaft in Tunis bitten, um dort als Kriegsflüchtlinge aus Libyen Zugang zu einem Land zu verlangen, in dem sie in Sicherheit leben können. Wir fordern die deutschen Innenminister auf, sich bei der Deutschen Botschaft in Tunis dafür einzusetzen, dass diese Flüchtlinge dort vorgelassen werden und ihnen eine Perspektive auf wirklichen Schutz - z.B. durch das Resettlementprogramm der IMK - angeboten wird, den sie in Tunesien aufgrund der instabilen Lage nicht erhalten können. Damit könnte Deutschland zumindest einen kleinen Beitrag dazu leisten, weitere Tote an den EU-Außengrenzen zu vermeiden.
gez. i.V. Martin Link
Pressekontakt: C. Gunßer, Flüchtlingsrat HH, <link>conni.gunsser@sh-home.de
1Wortlaut siehe
www.nds-fluerat.org/wp-content/uploads/2012/05/Resettlement_IMK_BMI.pdf
www.afrique-europe-interact.net/index.php
frlan.tumblr.com/post/46837656415/surviving-choucha
5 Siehe Gespräche mit Flüchtlingen in Choucha und <link http: taz.de sudanese-ueber-flucht>
taz.de/Sudanese-ueber-Flucht/!124946/
6Entschließung des Europäischen Parlaments vom 23. Oktober 2013 zu dem Zustrom von Migranten im Mittelmeerraum, insbesondere den tragischen Ereignissen vor Lampedusa (2013/2827(RSP))