Vor dem Hintergrund des bundesweiten Lockdowns appelliert der Flüchtlingsrat SH an die schleswig-holsteinische Landesregierung, alle Abschiebungen auszusetzen. Es ist eine Demonstration der Ignoranz gegenüber den Ansteckungsrisiken der Betroffenen und der in Afghanistan offensichtlichen Mängel beo der Gesundheitsversorgung, dass die Bundesregierung nach einem neunmonatigen pandemiebedingten Abschiebungsmoratorium in diesem Dezember erstmals wieder eine Charterabschiebung nach Afghanistan durchführen will - und darüber hinaus den Ländern eine Erhöhung der monatlichen Abschiebungskapazitäten ankündigt.
Bereits am 7. Dezember hat ein breites Bündnis von 47 Organisationen an die Innenmionister*innenkonferenz appelliert, Abschiebungen auszusetzen. Wörtlich heißt es in der gemeinsamen Erklärung: "Zahlreiche Herkunftsländer von Asylsuchenden haben marode Gesundheitssysteme und sind nicht in der Lage, an dem Virus Erkrankte zu versorgen. Auch Staaten mit einem relativ gut aufgestellten Gesundheitssystem kommen an ihre Kapazitätsgrenze. Die Zahl der Corona-Infizierten steigt weltweit dramatisch, ganz zu schweigen von der rasant steigenden Zahl der Toten. Dennoch werden Menschen in Länder abgeschoben, in denen sich die Pandemie katastrophal auswirken könnte oder es bereits tut. Das Risiko für ihre Gesundheit und körperliche Unversehrtheit ist immens".
Aus diesem Grund forderte die große Mehrheit der Integrationsbeauftragten der Länder bereits im April 2020 einen bundesweiten Abschiebungsstopp: "Im Hinblick auf die Rechtssicherheit der Betroffenen, aber auch auf die weitere Ausbreitung des SARS-CoV-2 und die sehr dynamische Entwicklung in vielen Herkunftsländern sind klare Regelungen geboten. Es bedarf eines generellen vorübergehenden Abschiebestopps in allen Bundesländern."
"Dass trotz des nun auch in Deutschland ausgerufenen Lockdowns eine bundesweite Charterabschiebung ausgerechnet in das vom Bürgerkrieg und einer grassierenden Pandemie heimgesuchte Afghanistan - wo ein Drittel der Bevölkerung als infiziert gilt - stattfinden soll, ist purer Zynismus", kritisiert Martin Link, Geschäftsführer des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein. "In Afghanistan droht nach dem absehbaren Abzug der westlichen Truppen eine erneute Taliban-Herrschaft, Verfolgung und Konflikte werden eher weiter eskalieren, als dass überlebenschancenreiche zumutbare Bedingungen für Rückkehrende zu erwarten sind."
Auch für andere Geflüchtete fordert der Flüchtlingsrat eine generelle Aussetzung von Abschiebungen und mindesttens die Aussetzung der Inbetriebnahme der in Glückstadt geplanten Abschiebungshaftanstalt bis auf Weiteres. Es darf nicht sein, dass Menschen, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, festgenommen, inhaftiert und ggf. in Abschiebungsflieger gezwungen werden zu einem Zeitpunkt, zu dem alle Welt aufgefordert ist, Kontakte und unnötige Reisen zu vermeiden. Die damit einher gehende Gefährdung der Gesundheit nicht nur der betroffenen Flüchtlinge, sondern auch aller beteiligten Beamt*innen wäre fahrlässig.
Innenministerin Dr. Sabine Sütterlin-Waack ist aufgefordert, ein Machtwort zu sprechen und alle Abschiebungen bis auf Weiteres aussetzen. "Insbesondere mit Blick auf die vom Bundesinnenministerium geplante Charterabschiebung nach Afghanistan appelieren wir an das schleswig-holsteinische Innenministerium, sich angesichts der am Hindukusch eskalierenden Pandemie nicht an Abschiebungen nach Kabul zu beteiligen", erklärt Martin Link.
Dass das Land nicht jedem Abschiebungsdrang des Bundes und konservativ geführter Bundesländer nachgeben muss, hat die schleswig-holsteinische Innenministerin in beispielgebender Weise bei der letzten Innenminister*innenkonferenz gezeigt, als sie sich dem Beschluss für ein Ende des Syrien-Abschiebungsstopps nicht angeschlossen hat.
Hintergrund zu Abschiebungen nach Afghanistan Afghanistan-Experte Thomas Ruttig geht davon aus, dass die jetzt trotz fortbestehender Corona-Pandemie wieder bestehende Bereitschaft der afghanischen Regierung zur Entgegennahme von Abschiebungschartern mit dem Abschluss der Geberkonferenz in Genf am 23. und 24. November zusammenhängt. Dort wurde Afghanistan die Weiterfinanzierung der Entwicklungshilfe bis 2024 zugesagt und in der Abschlusskommuniqué die »Bekämpfung irregulärer Migration« beschlossen.
Vorangegangen war der ersten Sammelabschiebung am 14.12.2016, mit der 34 Menschen abgeschoben wurden, die Aufnahme von Verhandlungen de Maizières mit der afghanischen Regierung im Februar 2016, die im Oktober in einem bilateralen Rückführungsabkommen mündeten. Ebenfalls im Oktober 2016 kam es auch zu einem Rückführungsabkommen zwischen der EU und Afghanistan. Bereits im März 2016 lagen hierzu passend geheime Pläne der EU zur Abschiebung von 80.0000 Afghanen vor. Zeitgleich zu diesen europäischen Plänen wurde hierzulande nach Recherchen der ZEIT seitens des Innenministeriums Druck auf das ihm unterstellte Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgeübt, die Schutzquote nach unten zu drücken. Lag diese noch im Jahr 2015 bei 78 %, sank sie in Folge des Drucks seitens des Dienstherrn des Bundesamtes im ersten Halbjahr 2016 auf 52,9 %. Dies, obwohl – wie dem Bundesinnenministerium sehr wohl bekannt war – zur gleichen Zeit die höchste Zahl ziviler Opfer seit 2009 gemeldet worden war.
Immer wieder wurde von der Bundesregierung behauptet, es gebe anderweitig inländischen Schutz in Großstädten. Ein aktueller Bericht des UNHCR aus Dezember 2019 un d selbst der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amts und <link file:6364>weitere Quellen kommen zum Ergebnis, dass die afghanische Hauptstadt nicht als sicher betrachtet werden kann: Aufgrund der Sicherheits- und Menschenrechtslage sowie der dramatischen humanitären Situation stelle Kabul laut UNHCR keine sogenannte »inländische Fluchtalternative« dar. Genau solche behauptet das BAMF aber immer wieder in seinen Asyl-Ablehnungsbescheiden, und genau im Zentrum der Aufstandsgewalt und Überlebensnot landen die Charterflüge.
Seither wurden regelmäßig Sammelabschiebungen in das seit Jahrzehnten von Krieg und Bürgerkrieg gezeichnete Land vorgenommen. Insgesamt sind seit Dezember 2016 bis einschließlich März dieses Jahres 907 Afghanen mittels Sammelabschiebeflügen nach Afghanistan abgeschoben worden. Die Schutzquote für die Anerkennung afghanischer Schutzsuchender sank seit 2016 parallel dazu kontinuierlich weiter und liegt derzeit (1. Halbjahr 2020) bei nur noch 40,6 %. Erst kürzlich wurde bekannt, wie viele rechtswidrige Ablehnungen Afghan*innen in Asylverfahren erhalten. Auf eine parlamentarische Anfrage der Linken teilte die Bundesregierung mit, dass Verwaltungsgerichte in den ersten neun Monaten dieses Jahres 5.644 ablehnende Entscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge aufgehoben haben und den Betroffenen Schutz gewährt haben. 59 % der BAMF-Bescheide erwiesen sich damit als rechtswidrig.
Mit 44.000 Opfern allein 2019 ist Afghanistan der tödlichste Konfliktherd weltweit. Seit 2017 wächst die Zahl der Verletzten um jährlich 25 % – in 2020 rechnet man mit 250.000. Schon fast 20% der Familien verzichten aus Angst auf den Arztbesuch. Allein 2019 mussten 192 Krankenhäuser nach Angriffen schließen, nur 34 öffneten wieder. Inzwischen haben 6,6 Millionen nur noch bedingten Zugang zu medizinischer Versorgung.
Derweil versinkt Afghanistan in einer epidemischen Verbreitung von Gewalt und Verbrechen. In einer Recherche geben 32 % der Befragten an, Opfer physischer Übergriffe, 30% von räuberischer Erpressung, 24% von Raub und Plünderung, 20% von Selbstmordattentaten geworden zu sein. Eine Erhebung unter aus Europa Abgeschobenen offenbart, dass sie in den ersten zwei Monaten durchschnittlich mehr als zweimal Opfer der Gewalt von Soldaten, Aufständischen oder Kriminellen geworden sind. Alle, die Verfolgung aus dem Land getrieben hatten, erlebten, dass sich diese nach ihrer Rückkehr nahtlos fortsetzte. In Fällen, wo Aufständische Rückkehrern habhaft wurden, unterwarfen sie diese wegen Desertion und oder unterstellter Apostasie einer sogenannten Talibanjustiz.
Bis dato wurden innerhalb des Landes 4,78 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen. Zu den von Gewalt Vertriebenen kommen allein 2019 ca. 279.000 Überschwemmungsopfer und 400.000 durch Dürre Vertriebene hinzu. Aus Pakistan und Iran wurden seit 2018 bis dato über 2 Millionen zwangsweise repatriiert.
Die wirtschaftliche Lage Afghanistans ist desaströs: Die Arbeitslosenrate ist weltweit die höchste. 33% der Bevölkerung – allein seit 2018 hat sich die Zahl der Betroffenen um 6 Millionen erhöht – benötigen dringend und regelmäßig Lebensmittelhilfe. Corona-bedingt ist hier akut ein Anstieg auf 14 Millionen zu verzeichnen. 65% des von privaten Haushalten geliehenen Geldes wird für Essen, 19% für Medizin benötigt. 78% der Haushalte sind bei ihrem Überleben auf Schuldenmachen, Betteln, Kinderarbeit, Verkauf von Land und Haus angewiesen. Das Kabuler Gesundheitsministerium zählt bisher ein Drittel Corona-Infizierte unter der Bevölkerung. Aktuelle Daten sagen, dass schon vor Beginn der Pandemie 93% der Bevölkerung als extrem Arme mit unter 2$ Einkommen täglich auskommen mussten.
gez. Martin Link