Mit Zustimmung von Bundesinnenministerin Nancy Faeser sowie der Befürwortung durch die grüne Außenministerin Annalena Baerbock und den liberalen Justizminister Buschmann haben die Innenminister*innen der EU einen Frontalangriff auf den Rechtstaat und das Flüchtlingsrecht gestartet. PRO ASYL und Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein werfen insbesondere Faeser und Baerbock vor, wider besseres Wissen, das menschenrechtliche Desaster schön zu reden.
Es ist eine Fehlinformation, dass Geflüchtete aus Afghanistan und Syrien nicht in das Grenzverfahren kommen. Auch für diese Gruppen wird absehbar zum Beispiel in Griechenland in den verpflichtenden Grenzverfahren unter haftähnlichen Bedingungen zuerst die Zulässigkeit eines Asylantrages geprüft.
„Die massiv verwässerten Kriterien für angeblich sichere Drittstaaten öffnen einer technokratischen Politik Tür und Tor, die Schutzsuchenden außen vor zu halten und sich ihrer auf scheinlegale Weise zu entledigen“, mahnt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.
Selbst Familien mit Kindern werden künftig an Europas Grenzen in Haftlagern hinter Stacheldraht landen - nicht einmal diese oft beschworene rote Linie hielt die Bundesregierung Medienberichten zufolge ein. Gegenüber Medien verlautbarte Beteuerungen Faesers, hier dennoch nicht locker zu lassen, entbehren eingedenk der Mehrheiten in den Mitgliedsstaaten jeglicher Durchsetzungschance - und das weiß sie!
„Wenn Geflüchtete in Grenzverfahren weggesperrt werden, um sie in unsichere Drittstaaten abzuschieben, dann hat das mit Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit nichts mehr zu tun“, so PRO ASYL-Sprecher Karl Kopp.
Und die vielzitierte Solidarität unter den Mitgliedsstaaten sieht so aus: Wer keine Flüchtlinge aufnehmen möchte, muss das auch weiterhin nicht tun. Diese Länder können stattdessen einen Ablass an Dumpingzahlungen leisten – zum Beispiel an die sogenannte libysche Küstenwache zur Flüchtlingsabwehr.
Die Originaltexte inklusive der Annexe, die gestern beim Rat für Inneres der EU beschlossen wurden, sind immer noch nicht veröffentlicht. PRO ASYL und Flüchtlingsrat fordern die sofortige Veröffentlichung.
Soviel aber bzgl. der Beschlüsse zu Grenzverfahren und Auslagerung des Asylverfahrens in Drittstaaten ist sicher und wird entschieden kritisiert:
Die von Faeser aufgestellte Behauptung, dass syrische und afghanische Flüchtlinge nicht in das beschlossene Grenzverfahren an den EU Grenzen kommen, ist sachlich falsch. In Luxemburg beschlossen wurde, dass neben der verpflichtenden Anwendung der Grenzverfahren für Asylsuchende aus Herkunftsstaaten mit einer Schutzquote von unter 20% sowie Schutzsuchenden denen vorgeworfen wird, zum Beispiel Ausweisdokumente zerstört zu haben, es den Mitgliedstaaten offen steht, die Grenzverfahren auch auf jene Schutzsuchenden anzuwenden, die zum Beispiel über einen „sicheren Drittstaat“ fliehen. Alle Ankommenden werden bereits jetzt im EU-Modell-Projekt in Griechenland einer Zulässigkeitsprüfung unterworfen. Selbst Familien mit Kindern, die aus Syrien oder Afghanistan stammen, sind davon betroffen. Diese Praxis soll nun zur europäischen Norm werden.
Grenzverfahren sind keine schnellen Asylverfahren an der Grenze. In jedem Asylverfahren – auch in den diskutierten Grenzverfahren – wird zuallererst entschieden, ob ein Asylantrag zulässig ist. Wer über einen angeblich sicheren Drittstaat kommt, wird zurückgewiesen. Und das gilt auch für Kinder und ihre Familien. Und weil die EU aktuell nicht von funktionierenden Demokratien mit guten Schutzsystemen umgeben ist, sollen die Kriterien gesenkt werden, damit unsichere Staaten für sicher erklärt werden können. Das Kriterium wann ein dritter Staat als sicher gilt, soll so aufgeweicht werden, dass angeblich sichere Teilgebiete ausreichen, um Menschen in das Land abzuschieben. (»The designation of a third country as a safe third country both at Union and both at Union and at national level may be made with exceptions for specific parts of its territory or clearly identifiable categories of persons.« [Artikel 45 Absatz 1a AVVO])
Mitgliedstaaten sollen darüber hinaus bei der nationalen Bestimmung von „sicheren Drittstaaten“ auch nur Teile eines Staates als sicher erklären können. Eine europäische Norm, die dies verhindert, gibt es dann nicht mehr. Die Justiz als dritte Gewalt wird damit entscheidend geschwächt. Bisher haben europäische Gerichte regelmäßig Verstöße gegen Europäisches Recht gerügt.
Noch unklar ist, wie das Kriterium formuliert ist, nach dem ein Gebietskontakt des Schutzsuchenden zu diesem Staat noch nötig sein soll. Großbritanniens Ruanda-Modell könnte nur scheinbar vom Tisch sein. Viele Mitgliedsstaaten haben gefordert, dass noch nicht einmal eine Verbindung der Schutzsuchenden zu diesem Staat, in den sie abgeschoben werden sollen, bestehen müsse. In der letzten Stunde der Verhandlungen am Donnerstag wurden Verabredungen getroffen, die für den Schutz entscheidend sein werden – die aber noch nicht bekannt sind. Äußerungen in der Pressekonferenz weisen darauf hin, dass auch hier die Mitgliedstaaten selbst darüber entscheiden können, ob sie eine solche Verbindung voraussetzen. Damit wäre der Weg z.B. für einen Österreich-Ruanda-Deal geebnet. Am 17. Mai hieß es dazu im Art. 45 Abs. 2 AVVO: "Die Mitgliedstaaten können in ihrem innerstaatlichen Recht Vorschriften vorsehen, die eine Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem betreffenden Drittland verlangen, aufgrund derer es für diese Person zumutbar ist, sich in dieses Land zu begeben."
Im Vorfeld der Konferenz kursierten Entwürfe, in denen es hießt, "das Konzept des sicheren Drittstaates kann nur angewendet werden, wenn: b) eine Verbindung zwischen dem Antragsteller und dem betreffenden Drittstaat besteht, aufgrund derer es für die betreffende Person zumutbar wäre, sich in diesen Staat zu begeben, auch weil der Antragsteller durch diesen Drittstaat gereist ist, oder, wenn eine solche Verbindung nicht besteht, der Antragsteller der Einreise zustimmt" (Stand 6. Juni 2023). Dazu haben aber mehrere Mitgliedstaaten gesagt, dass das für sie nicht akzeptabel sei. Für die Streichung des verpflichtenden Verbindungselements und für mindestens eine Rückkehr zum vorherigen Kompromissvorschlag der Präsidentschaft sprachen sich AUT, CZE, NLD, GRC, HUN, POL, LTU (einziger offener Punkt), LVA, GRC, MLT, CYP, ITA, DNK aus. Siehe Bericht vom AstV vom 06. Juni: https://fragdenstaat.de/dokumente/238445-2899-astv-2-am-05-06-2023-fortsetzung-vorbereitung-ji-rat-am-8-9-juni-2023/
PRO ASYL und Flüchtlingsrat SH fordern: die Beschlüsse müssen gerade in dieser Stelle umgehend öffentlich gemacht werden. Die Bedeutung wird an den Zwischenständen deutlich.
Kontakt:
- PRO ASYL, presse@proasyl.de, T. 069-24231430
- Flüchtlingsrat SH, public@frsh.de, 0431-5568 5640