Im Vorfeld der Ministerpräsident*innen-Konferenz (MPK) vom 6. November hat sich eine weniger von Sorge um, als von Hetze gegen hierzulande Schutzsuchende politische Diuskussion zugespitzt. Dieser Paradigmenwechsel von einer „Willkommenskultur“ zu einer „Ausgrenzungsunkultur“ schlägt sich auch in der verwendeten Sprache nieder, wenn wider besseres rechtliches Wissen nur noch von "irregulärer Migration" die Rede ist. Flüchtlinge sind keine "irregulären Migrant*innen"! Sie nehmen ein verfassungsrechtlich verbrieftes Recht in Anspruch, das im Rahmen regulärer Asylverfahren geprüft wird.
„Wer gegen Geflüchtete hetzt und den Eindruck erweckt, ihre Vertreibung und Vergrämung sei oberste Staatsräson, macht übermütigen Rassist*innen noch mehr Mut und legt eine Lunte an das Pulverfass einer ohnehin sozial gespaltenen Gesellschaft“, mahnt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.
Sozialleistungen
Die von Bund und Ländern beschlossene Absenkung der Asylbewerberleistungen ist nicht nur "integrationspolitisch kontraproduktiv und unter Kindeswohlgesichtspunkten bedenklich", wie die Bundesländer Bremen und Thüringen – leider nicht Schleswig-Holstein – im Beschluss vom 6.11.2023 zu Protokoll gegeben haben. Es ist auch unmenschlich und unvernünftig, Geflüchtete absichtlich über Jahre in Armut und erzwungener Abhängigkeit seitens der öffentlichen Hand zu halten und ihnen erst nach 36 statt wie bisher nach 18 Monaten zumindest Leistungen auf dem Niveau der Sozialhilfe zu zahlen. Der Öffentlichkeit wird mit dem Versprechen, dieser " Schritt würde die Zahl der Geflüchteten verringern, dreist belogen. Die Behauptung, Sozialleistungen würden einen vermeintlichen Pull-Effekt erzeugen, ist nie bewiesen worden und längst widerlegt.
Leistungseinschränkungen und Sachleistungen für einen Zeitraum von 36 Monaten gab es bis zur Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2012 schon einmal. Das Bundesverfassungsgericht ist jetzt einmal mehr aufgefordert, die am Montag beschlossenen Kürzungen als verfassungswidrig zu markieren. Ohnehin zeugt die Strategie der Länder am 6. November von einer grundrechtsfeindlichen und empathielosen Haltung und frappierender Unkenntnis der Lebensrealität und Motivlage flüchtender und geflüchteter Menschen. Schutzsuchende Menschen werden sich nicht von der Flucht aus ihren Höllen abhalten lassen, weil sie 36 statt 18 Monate eingeschränkte Leistungen erhalten. Aber der Beschluss, sollte er so umgesetzt werden, wird nicht zuletzt mit Blick auf die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine die Ungleichbehandlung vergrößern und die soziale Ausgrenzung von Schutzsuchenden aus dem globalen Süden vertiefen.
„Mit dem so verordneten sozialen Prekariat für Asylsuchende als Instrument zur Verhinderung von Fluchtzuwanderung geben Bund und Länder den Wahler*innen – die offenbar ihre Hauptzielgruppe sind – wissentlich ein uneinlösbares Versprechen. Das wird sich bei den anstehenden Wahlen rächen“, ist Martin Link überzeugt.
Zudem wird ihnen im Asylbewerberleistungsgesetz eine angemessene Gesundheitsversorgung verwehrt, die gerade für Asylsuchende, die oft traumatische Gewalt im Herkunftsland oder auf der Flucht erleiden mussten, von erheblicher Bedeutung sind.
Darüber hinaus schließt die Beschlusslage vom Montag asylsuchende Menschen von Maßnahmen zur Vorbereitung und Eingliederung in den Arbeitsmarkt aus und behindert ihre Vermittlung in Arbeits- und Ausbildungsstellen.
Mit dem Kürzungsbeschluss ignorieren die Ministerpräsident*innen von Bund und Ländern auch die Expertise und einmütige Einschätzung von Fachorganisationen. So hatten 150 Migrations- und Sozialfachdienste sich Anfang November gemeinsam gegen Kürzungen am Existenzminimum ausgesprochen und stattdessen für die sozialrechtliche Gleichstellung Geflüchteter geworben.
Familiennachzug
Für Empörung sorgt beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein auch der beabsichtigte Verzicht auf eine – im Koalitionsvertrag der Ampel fest vereinbarte – Wiederherstellung des Rechts auf Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte: Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes und der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 6 GG, Art. 8 EMRK). Es ist verstörend und zeugt von menschlicher Kälte, wenn sich dem Sozialstaat und der grundrechtlich geschützten Familien verpflichtete Politiker*innen und Parteien, die ansonsten keine Gelegenheit auslassen, vollmundig die Bedeutung der Familie für den emotionalen, sozialen und wirtschaftlichen Schutz und ein gedeihliches Zusammenleben zu betonen, den vor oder während der Flucht unfreiwillig getrennten Familien über Jahre oder nun auf Dauer eine Trennung von ihrem Liebsten zumuten.
Exterritoriale Asylverfahren
Doch die grundrechtsfeindliche Schäbigkeit wurde von der MPK endgültig von der Kette gelassen, als auf Betreiben von CDU- und Grün-regierten Ländern ein Prüfauftrag für eine Externalisierung von Asylverfahren in Transitländer beschlossen wurde. Hier wird erschreckend deutlich, wie weit die asylpolitische Diskursverschiebung mittlerweile gediehen ist. Zwar haben die SPD-regierten Länder darauf gedrungen, dass die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention dabei zu achten wären, haben aber damit auch keine deutliche rote Linie gezogen.
Der Organisation PRO ASYL ist zuzustimmen bei ihrer Kritik: Wenn die Bundesregierung diesen Beschlüssen folgt, dann steigt sie ein in die rechtspopulistische Geisterfahrt der britischen, dänischen und neuerdings auch italienischen Regierungen – und wird spätestens vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte auf den Boden der Tatsachen zurück geholt werden. Den Kommunen hat diese Geld-, Zeit- und Energievergeudung dann jedenfalls nicht geholfen.
Der von den Ministerpräsident*innen gleichzeitig geforderte Fortsetzung und Umsetzung des Flüchtlingsdeals mit der autokratisch regierten Türkei, die weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert hat, verdeutlicht jedoch, dass "achten" offenkundig nicht "einhalten" bedeutet.
gez. Martin Link, T. 0431-5568 5640, public[at]frsh.de
Hintergrund zu verringerten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz:
Bei der Erfindung des Asylbewerberleistungsgesetzes vor genau 30 Jahren hielten Bundesregierung und Parlament eine Kürzung des sozialrechtlichen Existenzminimums für zwölf Monate vertretbar, darüber hinaus aber für unzumutbar. Es könne dann mangels "noch nicht absehbarer weiterer [Aufenthalts-]Dauer nicht mehr auf einen geringeren Bedarf abgestellt werden [...]. Insbesondere sind nunmehr Bedürfnisse anzuerkennen, die auf eine stärkere Angleichung an die hiesigen Lebensverhältnisse und auf bessere soziale Integration gerichtet sind." (Bundestagsdrucksache 12/5008 vom 24.5.1993). Derlei Überlegungen hielten die Regierungen seither allerdings nicht davon ab, die gekürzten Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz beständig zu verlängern.
Nach dem Bundesverfassungsgericht (s.o.) hat jeder Mensch das Recht auf ein menschenwürdiges physisches, aber auch soziokulturelles Existenzminimum, das die gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen soll. Ob die gegenüber dem sozialrechtlichen Existenzminimum gekürzten Grundleistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes überhaupt mit dem Verfassungsrecht vereinbar sind, ist fraglich. Nachdem das Verfassungsgericht konkrete Leistungssätze des Asylbewerberleistungsgesetzes bereits mehrfach nach oben korrigierte und Kürzungen widersprach, ist aktuell ein weiteres Verfahren beim Bundesverfassungsgericht anhängig.