Wer sich dieser Tage in Schleswig-Holstein für die bedingungslose Aufnahme oder den freedom of choice von Flüchtlingen engagiert, erlebt bisweilen eine Situation, die noch vor Zeiten undenkbar erschien. Bei der Asylaufnahme sind Landes- und Kommunalbehörden - selbst angesichts der aktuell besonderen Herausforderungen - i.d.R. um eine im Ergebnis integrationsfreundliche Praxis bemüht. Öffentliche Stellen sind sichtlich um Vernetzung mit Bürgerinitiativen der Flüchtlingshilfe bemüht. Ja selbst denen, die unser Bundesland nur im Transit durchwandern wollen, verwehren an Bahnhöfen und Fährhäfen keine Ordnungskräfte ihren Weg.
Doch dunkle Wolken ziehen am Himmel der neuen Asylfreiheit auf.
Bei dem am 24.9.2015 beginnenden Bund-Länder-Gipfel soll der <link http: www.fluechtlingsinfo-berlin.de fr pdf ge_bund_asylverfbeschleunigung.pdf>Entwurf des Asylbeschleunigungsgesetzes der Bundesregierung mit den Ländern abgestimmt werden. Die Bundesregierung reagiert mit der Gesetzesinitiative auf die sich im Zuge der Asylzuwanderung stellenden Handlungsbedarfe allein mit Abschottungsaktionismus und ignoriert vollständig verfassungsrechtliche wie humanitäre Standards sowie demographische und arbeitsmarktpolitische Bedarfe des Einwanderungslandes.
Aktuell kommen vor allem Flüchtlinge nach Deutschland, die als Asylberechtigte anerkannt werden. Für alle Flüchtlinge müssten aus Sicht von MigrationswissenschaftlerInnen, Flüchtlingsorganisationen, Bürgerinitiativen und zunehmend auch von Kammern und Wirtschaftsverbänden langfristig und nachhaltig wirksame Aufnahme- und Integrationsstrukturen geschaffen werden. Stattdessen soll mit dem Asylbeschleunigungsgesetz das Asylverfahren weiter bürokratisiert und neue Hürden für Bleiberecht und Integration aufgestellt werden:
Durch die im Gesetzentwurf geplante Verlängerung des Verbleibs in den Erstaufnahmeeinrichtungen werden - wie inzwischen bekannt wurde offenbar mit Zustimmung der SPD-Innenminister und -senatoren der Länder - Flüchtlinge in ohnehin überlasteten Unterkünften isoliert. Durch das Vorenthalten einer dezentralen Unterbringung wird allerdings Integration effektiv verhindert. Die schon erfolgte Einstufung einiger Westbalkan-Staaten und nun noch weiterer als „sichere Herkunftsstaaten“ ist <link http: www.frsh.de themen roma roma-einzelansicht article rechtsgutachten-zur-verfassumngsmaessigkeit-der-angeblich-sicheren-herkunftslaendern>sachlich und verfassungsrechtlich ungerechtfertigt und höhlt das Recht auf Asyl aus. Als weitere Bürokratisierung der Asylverfahren wird die „Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchender“ (sogenannte BüMA) auf gesetzliche Grundlage gestellt. Die BüMA zwingt die Flüchtlinge monatelang in eine Warteschleife, ohne dass sie ihr Asylverfahren betreiben können. Mit der rechtskräftigen Asylanerkennung einhergehende Rechtsansprüche - z.B. auf Familienzusammenführung - werden so kalkuliert auf die lange Bank geschoben. Die geplanten Leistungskürzungen beim Asylbewerberleistungsgesetz - bis hin zur Reduzierung auf "Butterbrot und Heimreiseticket" - sind eingedenk der deutlichen Worte des Bundesverfassungsgerichtes aus dem Sommer 2012 offensichtlich verfassungswidrig. Sie verstoßen gegen die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip.
FLÜCHTLINGSRAT SH und PRO ASYL appellieren an die Bundesländer, insbesondere die - wie in Schleswig-Holstein - grün-mitregierten, menschenrechtliche und integrationsorientierte flüchtlingspolitische Grundsätze nicht aufzugeben und diesem Gesetzespaket die Zustimmung zu verweigern. Der Gesetzesentwurf löst nicht die mit der Flüchtlingszuwanderung einher gehenden Probleme. Ähnliches muss allerdings auch zu dem am 23. September bekannt gewordenen <link http: www.spdfraktion.de sites default files>"7-Punkte-Papier für mehr Ordnung in der Flüchtlingspolitik" der SPD-Länderinnenminister und dem <link https: www.gruene.de fileadmin user_upload dokumente>Fünfpunkteplan der Grünen vom 2.9.2015 festgestellt werden.
Der Berliner Gesetzentwurf soll nach Verlauten am Bundesrat vorbei allein über die Beteiligung der Ministerpräsidentenkonferenz durchgedrückt werden. Doch auch die Expertise der Fachwelt gilt dem Bundesinnenministerium offenbar als weitgehend verzichtbar: Verbände wie die Neue Richtervereinigung oder die Vereinigung für Stadt-, Regional- und Landesplanung beklagen dass ihnen zur Abgabe ihrer Stellungnahme zu dem mit Anlagen 128-seitigen Gesetzentwurf nur 1 Tag Frist zugestanden wurde.
"Der Gesetzentwurf konterkariert die Ziele des schleswig-holsteinischen Flüchtlingspaktes!" gibt darüber hinaus Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein zu bedenken.
Im Kieler Flüchtlingspakt hatten sich am 6. Mai 2015 die Landesregierung, Landesverwaltungen und Gebietskörperschaften, Bildungsinstitutionen, Verbände, Religionsgemeinschaften, Arbeitsmarktakteure sowie MigrantInnenorganisationen und Migrationsfachdienste gegenseitig ihr vernetztes Zutun zu einer künftig integrationsfreundlichen Aufnahme von Flüchtlingen in die Hand versprochen. Verschiedene <link http: www.frsh.de fileadmin pdf presseerklaerungen fluechtlingspakt-sh_20150506.pdf>Ziele des Flüchtlingspakts, z.B. regelmäßig für Asylsuchende einen frühestmöglichen Sprachkurs-, Bildungs- und nachhaltigen Arbeitsmarktzugang zu ermöglichen, auf dem Wege von Integrationsleistungen Erleichterungen beim Bleiberechtszugang zu schaffen, unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bedarfs- und jugendhilfegerecht zu versorgen und in den zuständigen öffentlichen Stellen eine Willkommenskultur zu etablieren, die sich von der vor allem auf Abschreckung Abschiebung setzenden Verwaltungshybris vergangener Dekaden verabschiedet, werden nach Inkrafttreten des kritisierten Bundesgesetzes kaum noch zu erreichen sein.
Doch die Tendenz des im Bundesinnenministerium ersonnenen Asylbeschleunigungsgesetzentwurfs, eine integrationsfreundliche Flüchtlingspolitik nicht nur in den Ländern, sondern selbst entsprechende Bemühungen anderer Bundesministerien zu unterlaufen, werde u.a. mit Blick auf besonders schutzbedürftige Flüchtlingsgruppen deutlich, beklagt auch der Bundesfachverband Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BUMF): So schreibe das für die Jugendhilfe zuständige Bundesfamilienministerium im geplanten Gesetz zur Umverteilung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen fest, dass alle jungen Flüchtlinge ein Recht auf Förderung und Unterstützung haben sollen. Gleichzeitig trachte das Bundesinnenministerium jedoch offensichtlich danach, tausende Minderjährige jeder Perspektive zu berauben und sie gesellschaftlich zu isolieren.
Auch das <link http: www.mehrlandinsicht-sh.de>Netzwerk Mehr Land in Sicht!, das sich - immerhin auf Grundlage von Bundesförderung - mit landesweiten Angeboten für die Bildungs- und Arbeitsmarktintegration von bleiberechtsungesicherten Flüchtlingen in Schleswig-Holstein engagiert, ist besorgt wesentliche seiner Ziele nach Inkrafttreten des Asylbeschleunigungsgesetzes nicht mehr zu erreichen. Denn im Gesetzentwurf vorgesehen sei, dass geduldeten Flüchtlingen (bundesweit ca. 129.000) - außer der Erfüllung der Schulpflicht - Bildungsmaßnahmen verboten werden sollen, soweit sie aus angeblich sicheren Herkunftsländern sind oder ihnen vorgeworfen wird, nicht an ihrer eigenen Abschiebung mitzuwirken. Insbesondere Letzteres würde künftig Menschen aus Westbalkanstaaten, aus westafrikanischen Ländern, aber auch Geduldete aus Afghanistan, Pakistan oder der Türkei treffen. Sie müssten ggf. auf amtlichen Bescheid hin umgehend Flüchtlingsklassen an Berufsschulen, (schulische) Ausbildungen, Oberstufen, berufsorientierende Sprachkurse sowie Universitäten verlassen.
"Hinnehmbar sei auch nicht, dass Länder wie Albanien, das Kosovo und Montenegro, bei denen Diskriminierungen von Sinti und Roma alltäglich sind, als sichere Herkunftsländer gelten sollen", kritisiert nicht allein die Türkische Gemeinde in Deutschland.
Asylsuchenden Familien und Personen aus vermeintlich „sicheren Herkunftsländern“ - Bundesinnenminister Thomas de Maizière hatte in Interviews mehrfach betont, dass s. E. sämtliche EU-Mitgliedschaftsanwärter und eine ganze Reihe afrikanischer Drittstaaten als sicher erklärt werden sollten - aber auch andere wegen bestehender Rückkehrrisiken nicht ausreisende Ausreisepflichtige würden auch über Bildungsverbote hinaus massiv entrechtet. Sie sollen nach dem aktuellen Gesetzentwurf mit Arbeitsverboten, Sachleistungen, Residenzpflicht und Aufenthaltsverboten dauerhaft in Erstaufnahmeeinrichtungen kaserniert werden.
"Damit würde eine Struktur von Asyladministrierung etabliert, die die Bemühungen des Landes und der Zivilgesellschaft um eine nachhaltige Integration der Flüchtlinge in Ausbildung, Arbeit und Gesellschaft systematisch aushebelt", sorgt sich Özlem Erdem-Wulff, die das Netzwerk Mehr Land in Sicht! - Arbeit für Flüchtlinge in Schleswig-Holstein koordiniert.
In ihrem o.g. Positionspapier fordern die SPD-Innenminister und -senatoren der Länder u.a. ein beschleunigtes Asylverfahren. Dazu gehöre, dass die Geschwindigkeit der Asylverfahren mit dem Ziel einer absoluten Höchstdauer von 3 Monaten deutlich erhöht werde. "Schnelligkeit dürfe nicht vor Sorgfalt gehen", mahnt dagegen Martin Link. In Schleswig-Holstein werden zahlreiche Asylsuchende dezentral verteilt, bevor ihnen der Einstieg ins Asylverfahren eingeräumt würde. Zur Beschleunigung des Verfahrens gehöre jedoch unverzichtbar eine seriöse Information der Betroffenen über das formale Prozedere, über ihre Pflichten und Gestaltungsmöglichkeiten. "In diesem Sinne aufgestellte, in den Erstaufnahmeeinrichtungen wie dezentral zugängliche und spezialisierte Flüchtlingsberatungsangebote fehlen allerdings weitgehend in Schleswig-Holstein", beklagt Link.
Anlässlich des Flüchtlingsgipfels veröffentlicht PRO ASYL ein umfassendes Grundsatzpapier zur Aufnahme und Integration von Flüchtlingen, und die Integrationsfachstelle GGUA aus Münster hat eine fundierte Kritik am regierungsamtlichen Gesetzentwurf vorgelegt (siehe pdf-Datei-Anhänge).
Der FLÜCHTLINGSRAT SH schließt sich den von PRO ASYL an die TeilnehmerInnen des Bund-Länder-Gipfels adressierten Forderungen an:
- Schnelle und faire Asylverfahren ohne Aushöhlungen der Rechtsgarantien Asylsuchender. Die bürokratische Trennung in Asylersuchen und Asylantrag muss aufgehoben werden. Das BAMF hat umgehend eine Anhörung durchzuführen. Die Entscheidung muss ebenso umgehend und weisungsunabhängig durch die Person, die die Anhörung durchgeführt hat, erfolgen.
- Die Ausweitung und Systematisierung der Prüfung der Asylanträge von Menschen, die kollektiv verfolgt werden, ist zu verbessern. Diese Situation liegt derzeit bei Menschen aus Syrien und dem Irak vor. Das BAMF entscheidet bei ihnen meist im schriftlichen Verfahren. Auch für Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea und andere Personengruppen sollte ein schriftliches Verfahren angewandt werden.
- Zur Entlastung des BAMF wird eine Altfallregelung erlassen mit einer Aufenthaltserlaubnis für Flüchtlinge, über deren Asylantrag seit einem Jahr nicht entschieden wurde.
- Die gesetzliche Verpflichtung nach drei Jahren regelmäßig einen Widerruf einer Anerkennung zu prüfen, muss entfallen.
- Die gesetzlich festgeschriebene Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften muss abgeschafft werden. Wer bei Familien oder Freunden unterkommen kann, muss die Möglichkeit dazu haben. Gleiches gilt, wenn eine Privatwohnung gefunden wird. Dies darf nicht durch die Zuweisung an ein bestimmtes Bundesland verhindert werden.
- Schaffung bezahlbaren Wohnraums für alle Menschen mit geringem Einkommen durch den Ausbau des sozialen Wohnungsbaus durch den Bund.
- Sofortiger Zugangsmöglichkeit zu Sprachkursen und zu beruflichen Qualifizierungen für alle Flüchtlinge. Dabei lehnt PRO ASYL eine Einteilung in Flüchtlinge mit „guter“ und „schlechter“ Bleibeperspektive ab. Diese Einteilung kann nicht vor einem Asylverfahren stattfinden und eine Orientierung an Anerkennungsquoten ist mit dem Gedanken des individuellen Verfahrens unvereinbar.
- Gleichberechtigter Zugang von Flüchtlingen zum Arbeitsmarkt.
- Massive Investitionen in das Bildungs- und Ausbildungssystem und Abbau bürokratischer Hürden.
- Das ehrenamtliche Engagement braucht hauptamtliche Unterstützung, Koordination und Qualifizierung.
- EU-weite Freizügigkeit für Menschen, die in einem EU-Staat als international schutzberechtigt anerkannt sind.
- Dublin-III-Verordnung abschaffen: Schutzsuchende sollen in dem Land, das sie aufsuchen möchten, ihr Asylverfahren durchlaufen.
Downloads:
· Entwurf Asylbeschleunigungsgesetz: <link http: www.fluechtlingsinfo-berlin.de fr pdf ge_bund_asylverfbeschleunigung.pdf>
www.fluechtlingsinfo-berlin.de/fr/pdf/GE_Bund_AsylVerfBeschleunigung.pdf
· Gutachten zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes über sichere Herkunftsstaaten: <link http: www.frsh.de themen roma roma-einzelansicht article rechtsgutachten-zur-verfassumngsmaessigkeit-der-angeblich-sicheren-herkunftslaendern>
· Flüchtlingspakt Schleswig-Holstein: <link http: www.frsh.de fileadmin pdf presseerklaerungen fluechtlingspakt-sh_20150506.pdf>
www.frsh.de/fileadmin/pdf/presseerklaerungen/2015/fluechtlingspakt-SH_20150506.pdf
· "7-Punkte-Papier für mehr Ordnung in der Flüchtlingspolitik" der SPD-Innenminister v. 23.9.2015: <link http: www.spdfraktion.de sites default files>
www.spdfraktion.de/sites/default/files/7punkte-fluechtlingspolitik.pdf
· Fünfpunkteplan der Grünen vom 2.9.2015: <link https: www.gruene.de fileadmin user_upload dokumente>
www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/20150902__5-_Punkte_Plan-End.pdf
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Kontakt:
PRO ASYL e.V., T. 069 / 24 23 14 30, <link>presse@proasyl.de, <link http: www.proasyl.de>www.proasyl.de
Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V., T. 0431-735 000, <link>office@frsh.de, <link http: www.frsh.de>www.frsh.de