Die Bundesregierung stellt heute im Bundestag ihre Position zur europäischen Flüchtlingspolitik und den aktuell diskutierten Reformplänen vor. In den Medien bekannt gewordene Aspekte zeigen, dass die Bundesregierung sich gefährlich weit von den Grundsätzen ihres menschenrechtsbasierten Koalitionsvertrags entfernt. PRO ASYL und Flüchtlingsrat SH sind entsetzt über die rot-grüne-gelbe Einigung. Damit rücken Grenzverfahren in Haftlagern an der EU-Grenze mit Ziel der Zurückweisung in nicht sichere Drittstaaten immer näher.
„Bei den Verhandlungen um die Zukunft des europäischen Asylsystems geht es auch um die Zukunft von Rechtstaatlichkeit und Menschenrechten in der EU. Dass die Bundesregierung sich von ihren starken Menschenrechtspositionen nun zunehmend verabschiedet, ist ein dramatisches Signal. Der Druck von rechtspopulistischen Strömungen in der EU zur Abschaffung des Zugangs zum Recht auf Asyl ist enorm. Von der Rechtsstaatspartei FDP, den für Flüchtlingsrechte eintretenden Grünen und einer sozialdemokratischen Partei, deren Mitglieder vor Jahrzehnten selbst verfolgt wurden, hätten wir dieses Umfallen nicht erwartet,“ kommentierte Karl Kopp, Leiter der Europaabteilung von PRO ASYL, bitter.
Laut Medienberichten stimmt die Bundesregierung grundsätzlich der Einführung verpflichtender Grenzverfahren zu, will diese in ihrer Anwendung nur etwas mehr einschränken als von der Mehrheit der EU-Innenminister gefordert. Hierzu gehört eine grundsätzliche Ausnahme von Kindern.
„Grenzverfahren laufen auf die systematische Verhinderung des Zugangs zu effektivem Schutz für nach Europa fliehende Schutzsuchende hinaus. Stattdessen geht es offensichtlich darum, die Voraussetzungen zu zementieren, Betroffenen regelmäßig den Grenzübertritt zu verweigern und sie stattdessen in ein zur Aufnahme bereites Drittland abzuschieben,“ erklärt Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.
Eine solche Zustimmung zu Grenzverfahren passt nicht zu dem Versprechen des Ampel-Koalitionsvertrags, bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren zu schaffen und das Leid an den Außengrenzen zu beenden, kritisieren die beiden Organisationen.
Zu der jetzt vertretenen Position der Bundesregierung gehört auch, dass es innerhalb der EU zwar einen verpflichtenden Solidaritätsmechanismus bezüglich der Zuständigkeit für Asylverfahren geben soll, gleichzeitig das Dublin-System aber verschärft werden solle.
„Die Bundesregierung will das vollständig gescheiterte Dublin-System zusätzlich verschärfen – anstatt sich für die Abschaffung stark zu machen“, klagt Link. Schon jetzt führe das System nicht nur zu einer Überlastung der Außengrenzstaaten, sondern unterlaufe – weil es in zahlreichen Mitgliedsstaaten faktisch keine Zugänge zu Asylverfahren gibt – erfolgreich effektiven Schutz. Die von der Bundesregierung offenbar goutierte Verlängerung der Dublin-Überstellungsfristen von sechs auf zwölf Monate hätte dramatische Auswirkungen für viele Schutzsuchende.
Im ersten Halbjahr 2023 wird im Rat unter der schwedischen Ratspräsidentschaft über für die Zukunft des Flüchtlingsschutzes in Europa besonders relevante Entwürfe diskutiert: die Asylverfahrensverordnung und die Asyl- und Migrationsmanagement-Verordnung. Bislang hatte die Bundesregierung zu entscheidenden Punkten wie den Grenzverfahren, der Anwendung von „sicheren Drittstaaten“ und den zukünftigen Zuständigkeitsregeln keine geeinte Position. Bis zum nächsten Ratstreffen der EU-Innenminister*innen am 8. Juni 2023 müssen sich die Mitgliedstaaten auf Verhandlungspositionen einigen, um den Reformprozess bis zur Europawahl im Frühjahr 2024 abschließen zu können.
Im Ampel-Koalitionsvertrag 2021 heißt es:
„Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden.“
„Wir wollen bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren und bei der Integration in den EU-Staaten.“
„Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“
PRO ASYL hat in einem Kurzpositionspapier die wichtigsten menschenrechtlichen roten Linien für die Verhandlung benannt: https://www.proasyl.de/material/notwendige-rote-linien-der-bundesregierung-fuer-die-verhandlungen-zum-new-pact-on-migration-and-asylum/
In der Sachverständigenanhörung im Bundestag zur europäischen Flüchtlingspolitik hat Wiebke Judith als rechtspolitische Sprecherin für PRO ASYL auf die Gefahren der Reform hingewiesen: https://www.proasyl.de/material/stellungnahme-zur-oeffentlichen-anhoerung-des-innenausschusses-zur-reform-des-gemeinsamen-europaeischen-asylsystems-geas/
Pressekontakt:
PRO ASYL e.V., presse[at]proasyl.de, T. 060-24241430
Flüchtlingsrat SH, public[at]frsh.de, T. 0431-5568 5640