- Landesflüchtlingsbeauftragter: nicht vertretbar und rechtlich unzulässig!
- Ärztekammer und Refugio e.V. verurteilen den Vollzug der Abschiebung einer schwer traumatisierten Frau
Am 25. Mai kam es in Norderstedt unter Einsatz von örtlicher Polizei und dem SEK zu einer nächtlichen Abschiebung einer kurdischen Familie aus Norderstedt, die im Fiasko endete: die in Folge von vor ihrer Flucht in der Türkei erlittener polizeilicher Gewalt schwer traumatisierte Mutter wurde mit nur einem Teil ihrer Kinder nach Istanbul abgeschoben, der suizidale, ebenfalls traumatisierte Vater in Abschiebungshaft genommen (vgl. <link presse pe_27_5_05.htm _blank>Presseerklärung des Flüchtlingsrates vom 27.5.2005).
Anlässlich der am 8. Juni 2005 im Kieler Landeshaus durch den Flüchtlingsrat einberufenen Pressekonferenz kam es zu einer kritischen Bilanz dieser Abschiebungsmaßnahme.
Leman Rüschemeyer und Gisela Nuguid, Mitarbeiterinnen kirchlicher Beratungseinrichtungen, berichteten über den aktuellen Stand: Frau Özdemir hat nach stundenlangen Verhören durch türkische Sicherheitsdienste nach Vollzug der Abschiebung zunächst Obdach bei einer Cousine in Istanbul gefunden. Sie wurde von dem den Abschiebungsflug begleitenden Arzt nicht in ärztliche Obhut übergeben. Für eine Fortführung der medikamentösen und therapeutischen Behandlung, aus der sie durch die unangekündigte Abschiebung herausgerissen wurde, wurde nicht Sorge getragen. Frau Özdemir ist offenbar schwer re-traumatisiert, ihre Kinder sind verzweifelt, sorgen sich um die Gesundheit der Mutter und den Verbleib des Vaters und des ältesten Bruders. Der Vater Akif Özdemir sitzt in der Rendsburger Abschiebungsgefängnis ein. Er ist nach Ansicht des Anstaltsarztes suizidal und bedarf dringend einer fachärztlichen Behandlung. Der 16-jährige Sohn Hadin Özdemir, der zunächst aufgewühlt vom Schrecken über den nächtlichen Polizeieinsatz fortgelaufen war, hat inzwischen eine kurzbemessene Duldung von der zuständigen Ausländerbehörde erhalten.
Cornelia Ganten-Lange, die Hamburger Rechtsanwältin der Familie Özdemir, bewertet den Vorgang mit Blick auf Art. 1 GG als mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Darüber hinaus sei mit dem nächtlichen unangekündigten Vollzug für die Betroffenen amtlicherseits die Rechtsschutzmöglichkeit faktisch außer Kraft gesetzt. Zu keiner Zeit sei ihr von der zuständigen Ausländerbehörde mitgeteilt worden, dass eine Abschiebung unmittelbar bevor stünde. Schließlich kritisiert die Anwältin, dass das angerufene Verwaltungsgericht eine "Transportfähigkeit" festgestellt habe und damit eine echte Würdigung von § 60.7 Aufenthaltsgesetz nicht geleistet. Das Gesetz setze nämlich für Abschiebungen nicht lediglich Transportfähigkeit voraus, sondern auch, dass eine Verschlimmerung der vorliegenden Krankheit auszuschließen sei. Den beteiligten Behörden und dem Gericht lagen indes zu jedem Zeitpunkt alle für die Beurteilung der gesundheitlichen Situation der Familie relevanten Atteste und Gutachten vor.
Ernst Soldan, der Norderstedter Hausarzt der Familie, und Reinhard Fröschlin, Facharzt für Psychotherapeutische Medizin bei den Segeberger Kliniken und unanhängiger Gutachter für Frau Özdemir, schilderten die Frau als eine Patientin mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, die unter dissoziativen Krampfanfällen, Depressionen und Schwindelattacken leide. Fröschlin hält es für fahrlässig, einen traumatisierten Patienten aus der laufenden Behandlung herauszureißen. Mit Hinweis auf die Erlasslage zum Verwaltungsumgang mit traumatisierten Personen bei Abschiebungen stellt Fröschlin ferner fest, dass es unabhängig von der in der Ausländerakte dokumentierten fachärztlichen Erkenntnissen auch während der Abschiebung zahlreiche Hinweise auf Gefahr drohender Retraumatisierung vorgelegen hätten, die jeweils für sich schon Grund genug gewesen wären, die Abschiebung auszusetzen: Polizeigewalt vor dem Hintergrund dokumentierter man-made-Traumatisierung; Zusammenbruch von Frau Özdemir; Selbstschädigungsankündigung des Vaters; offenbar panische Gewaltausbrüche der ins Auto gesperrten Mutter gegen die eigenen Kinder... Soldan befürchtet, dass nach dem erfolgten abrupten Entzug der Medikamente die Gefahr einer Lebensgefährdung durch Dekompensation auch nach erfolgter Abschiebung noch nicht gebannt sei. Fröschlin bemängelt schließlich entschieden, dass in Kenntnis der gesundheitlichen Gefährdungslage weder die Ausländerverwaltung noch der begleitende Amtsarzt für eine weitergehende fachärztliche Behandlung von Frau Özdemir in der Türkei Sorge getragen hätten. Die pauschale Annahme, eine therapeutische Weiterbehandlung in der Türkei wäre schon möglich, bezeichnete Fröschlin nach seiner Kenntnis als "sehr verwegen": in der Türkei gäbe es bekanntermaßen keine nennenswerte Traumatherapeutenausbildung, zu den wenigen Therapeuten, die es gäbe, bestünde für mittellose Schüblinge faktisch kein Zugang.
Kaya Gülbeyaz, behandelnder Psychotherapeut von Frau Özdemir, ergänzte dahingehend, dass schon mit der der Abschiebung vorausgegangenen Zwangsvorführung von Frau Özdemir beim türkischen Konsulat in Hamburg, eine nachhaltige Retraumatisierung eingeleitet worden sei. Schon diese Maßnahme endete mit der stationären Einweisung von Frau Özdemir im Krankenhaus. Gülbeyaz erwartet nach Erleben des Abschiebungstraumas und der im Zuge dessen erfolgten Familientrennung bei Frau Özdemir eine Zuspitzung und Chronifizierung der Symptome, die durch therapeutische Maßnahmen vor Ort nicht mehr aufgefangen werden könne.
Dr. Hannelore Machnik, Vizepräsidentin der Schleswig-Holsteinischen Ärztekammer, hält den Vollzug der Abschiebung im Falle der amtbekannt schwer kranken Frau Özdemir für "bedenklich und fahrlässig". Die Gefahr der Re-Traumatisierung sei in diesem Fall für alle Beteiligten offensichtlich gewesen. Die Ärztekammer verurteile das Verwaltungshandeln in diesem Fall entschieden.
Bejat Moali vom schleswig-holsteinischen Behandlungszentrum für Folteropfer refugio e.V. verurteilt scharf, dass im Fall der Familie Özdemir das Schutzbedürfnis traumatisierter Menschen missachtet wurde, entschieden. Die Gesundheitssituation der Eltern Özdemir sei beispielhaft für die Einzelfälle, die von refugio betreut und behandelt würden. In der Gefahr der Retraumatisierung solcher Menschen sei regelmäßig eine Gefahr für Leib und Leben anzunehmen. Eine ausländerrechtliche Reduzierung des Problems auf die Überprüfung der Transportfähigkeit solcher traumatisierten Menschen sei abwegig.
Wulf Jöhnk, Landesbeauftragter für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen in Schleswig-Holstein, ist in Kenntnis der Aktenlage und des vorgenannt Gehörten betroffen und empört. Er hält die Vollstreckung der Abschiebung im Fall der Familie Özdemir für nicht vertretbar und juristisch sogar für unzulässig. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei insbesondere mit Blick auf das nächtliche überfallartige Verfahren offensichtlich in diesem Fall missachtet worden. Und dies wiege schwer, denn dieser Grundsatz habe Verfassungsrang.
Martin Link vom Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein zeigt sich irritiert, dass die Abschiebung überhaupt in dieser Form abgelaufen und auch angesichts des dramatischen Verlaufs nicht abgebrochen worden sei. sei. Denn die geltende Erlasslage (<link behoe erl_14_03_05.htm _blank>Erlass v. 14.3.2005) räume den Ausländerbehörden ausdrücklich die Möglichkeit ein, im Falle von gewalttraumatisierten Menschen Vollstreckungshindernisse festzustellen, z.B. "wenn nicht nur durch die Abschiebungsmaßnahme selbst, sondern auch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Maßnahme, d.h. in einem engen Zeitraum vor, während und nach der Abschiebung, hochrangige Rechtsgüter erheblich gefährdet sind". Link äußerte die Befürchtung, dass - wenn das Vorgehen im Fall Özdemir zur Blaupause der Abschiebepraxis mit kranken und traumatisierten Menschen im Bundesland werde -, der ermessensöffnende Tenor des innenministeriellen Erlasses Gefahr liefe, im ausländeramtlichen Handeln unbeachtlich zu bleiben.
Der Flüchtlingsrat fordert das Innenministerium auf, in Ausübung der Fachaufsicht dafür Sorge zu tragen,
- dass der Vater Akif Özdemir umgehend aus der Abschiebungshaft entlassen werde und so die Voraussetzung für die Aufnahme einer fachärztlichen Behandlung des suizidalen Mannes zu schaffen,
- im Zuge des laufenden Härtefallersuchens oder auf anderer Grundlage dem Sohn Hadin die Möglichkeit des weiteren Schulbesuchs bis zum Abschluss der Hauptschule im kommenden Jahr zu ermöglichen,
- die Mutter Besine Özdemir mit ihren Kindern aus der Türkei zurückzuholen und auf Grundlage der geheilten Familientrennung die angezeigte Therapie durchführen zu lassen, bevor weitere auf eine mögliche Rückkehr der Familie orientierende Maßnahmen erwogen würden.
gez. Martin Link
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