Anlässlich des 1. Jahrestages der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan ruft der Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein Bund und Land zu großzügigen Aufnahmeprogrammen und zu einem robusten Bleiberecht für alle geduldeten Menschen aus Afghanistan auf.
In Schleswig-Holstein gehören die Afghan*innen zu einer der größten Gruppen von Geflüchteten. Mehr als 2.500 von ihnen sind ausreisepflichtig geduldet. Die vom Bund geplante Bleiberechtsregelung will nur an langjährig Aufhältige Chancen vergeben.
Doch unter allen Afghan*innen in Schleswig-Holstein herrscht spätestens seit der Machtübernahme der Taliban die nackte Angst. Sie bewahren aber die Hoffnung, ihre Angehörigen dort heraus zu holen und auch selbst ein robustes Bleiberecht zu erhalten. Nachdem es im August und September 2021 noch zur Aufnahme einiger Ortskräfte und ihrer Angehörigen gekommen ist, passiert seither allerdings fast nichts.
Stattdessen erfahren wir z.B. aus Hasenmoor im Kreis Segeberg von der Familie einer Ortskraft, die von Spanien aufgenommen wurde und hierher wegen guter Deutschkenntnisse und sozialer Kontakt weitergewandert war, aber am letzten Ultimo der Dublin-Frist nach Spanien zurückgeschoben wurde. Oder es wenden sich Betroffene an uns, die in der aktuellen Situation vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Widerrufverfahren ihres Schutzstatus überzogen werden.
Wir erwarten, dass das Verwaltungshandeln des Bundes, Landes und der Kommunen im Umgang mit afghanischen Geflüchteten sich von der Illusion verabschiedet, in absehbarer Zeit Aufenthaltsbeendigungen in den Hindukusch vollziehen zu können, und stattdessen den betroffenen Menschen die Wege in eine nachhaltige Integration hierzulande erleichtert.
Wir dringen auf wirksame Bundes- oder Landesaufnahmeprogramme, die ihren in prekärer Situation in Afghanistan verbliebenen oder in einem Drittland gestrandeten Angehörigen, die Einreise erlauben.
Im Ampel-Koalitionsvertrag heißt es immerhin:
„Wir werden ein humanitäres Aufnahmeprogramm des Bundes in Anlehnung an die bisher im Zuge des Syrien-Krieges durchgeführten Programme verstetigen und diese jetzt für Afghanistan nutzen. Wir werden unsere Verbündeten nicht zurücklassen. Wir wollen diejenigen besonders schützen, die der Bundesrepublik Deutschland im Ausland als Partner zur Seite standen und sich für Demokratie und gesellschaftliche Weiterentwicklung eingesetzt haben. Deswegen werden wir das Ortskräfteverfahren so reformieren, dass gefährdete Ortskräfte und ihre engsten Familienangehörigen durch unbürokratische Verfahren in Sicherheit kommen. Wir werden humanitäre Visa für gefährdete Personen ermöglichen und dazu digitale Vergabeverfahren einführen“
Doch das Bundesinnenministerium wehrt sich gegen den Beschluss der Ampel-Koalition, 20.000 Menschen aufzunehmen und will gerade einmal 1.000 Familien/Jahr die Aufnahme zugestehen. Auch der Kieler schwarz-grüne Koalitionsvertrag will lediglich „das Bundesaufnahmeprogramm unterstützen“. Ein eigenes Landesaufnahmeprogramm für Afghan*innen ist demnach nicht vorgesehen.
Forderungen an die Bundes- und Landesregierung:
- Aufnahme und Zugang für alle Afghan*innen zu Schutz und Bleiberecht in Deutschland – auch für aus einem Drittstaat oder einem EU Mitgliedsstaat Binnenmigrierte.
- Abschiebungsstopp für Afghanistan mindestens für die Dauer des islamistischen Regimes. Keine Kollaboration mit dem Regime bei Aufenthaltsbeendigungen.
- Schluss mit den Kettenduldungen und mit einer trotz der Unzumutbarkeit der Rückkehr weiterhin restriktiven Ausländerverwaltungspraxis! Bleiberecht für alle geduldeten Afghan*innen. Verzicht auf die Passpflicht im Zuge der Identitätsklärung.
- Ein großzügiges Landes- sowie eine Bundesaufnahmeprogramm für besonders gefährdete Personen in Afghanistan oder in einem Drittland, z.B. Frauen, Menschenrechtler*innen und einen erweiterten Kreis von Ortskräften.
- Ein Landeserlass zur Aufnahme von Angehörigen von im Bundesland lebenden Afghan*innen nach dem Vorbild des geltenden Syrienerlasses.
- Beschäftigungserlaubnisse für alle afghanischen Schutzsuchenden ab Ankunft.
- Ein schnellerer und entbürokratisierter Familiennachzug für die hier lebenden Afghan*innen, die seit langem auf eine Zusage und Visum für ihre Familienmitglieder warten. Zuständigkeit aller deutschen Auslandsvertretungen und Visa-on-Arrival-Verfahren.
Grundsätzlicher Appell an eine moderne Flüchtlingspolitik:
Finanzielle Erwägungen dürfen nicht die Rettung von Menschenleben gefährden. Dass eine großzügige Aufnahme von Menschen in Not möglich ist, zeigt die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine mit sofortigem Zugang zu Aufenthaltserlaubnis, Sprachkursen, Zugang zu SGB-Leistungen und Arbeit. Diese Großzügigkeit sollte auch für die Aufnahme andere Geflüchteter Anwendung finden, die ihr Land aufgrund von Krieg, Terror und existenzieller Not verlassen müssen, wie z.B. Afghanistan.
Hintergrund:
Am 15. August 2022 jährt sich die Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Damals ließen die Staaten der Welt nach 20 Jahren erfolglosem Antiterrorkrieg mit 200.000 Opfern Afghanistan im Stich. Die Verteidigung durch die afghanische Armee scheiterte und so übernahmen die extremistischen Islamisten die Macht im ganzen Land. Verfolgt werden seither Journalist*innen, Frauen- und andere Menschenrechtler*innen, ehemalige Ortskräfte und vermeintlich oppositionelle Demokrat*innen. Insbesondere Frauen und Mädchen erfahren eine systematische Unterdrückung und Ausgrenzung. Einher geht diese Entwicklung mit der Eskalation von Korruption, einer landesweiten Dürre, Beschäftigungslosigkeit, Hungerfluchtbewegungen und einem Ausbleiben internationaler Katastrophenhilfe. Das schwere Erdbeben im Süd-Osten zerstörte im Juni 75 Prozent der Gebäude im Erdbebengebiet. In der Überlebensnot blühen landesweit illegale Organentnahme und -handel, Familien sind immer öfter gezwungen, Kinder zu verkaufen oder ihre minderjährigen Mädchen zu verheiraten…
Kontakt und Information: Team Afghanistan • Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V. • T. 0431-55681358 • afghanistan@frsh.de, www.frsh.de