An
• Bundesagentur für Arbeit Regionaldirektion Nord
• Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus Schleswig-Holstein
• Ministerium für Soziales, Jugend, Familie, Senioren, Integration und Gleichstellung Schleswig-Holstein
• Mitglieder des Schleswig-Holsteinischen Landtages
• Mitglieder des Deutschen Bundestages aus Schleswig-Holstein
• Schleswig-Holsteinischer Landkreistag
• Schleswig-Holsteinischer Gemeindetag
• Städteverband Schleswig-Holstein
Kiel, 21. August 2024
Das „Fachgremium Geflüchtete Frauen Schleswig-Holstein (SH)“ setzt sich seit der Gründung 2016 für die Bedarfe von geflüchteten Frauen in Schleswig-Holstein ein. Uns geht es neben Unterbringungs-, Versorgungs- und Lebenssituationen auch um Integrationszugänge und die besonderen Bedarfe von geflüchteten Frauen und Mädchen.
Der Ende 2023 ins Leben gerufene Job-Turbo zur Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten hat signifikante Auswirkungen auf die Lebenssituation von geflüchteten Frauen in Schleswig-Holstein. Ziel des Job-Turbo ist es, Geflüchtete mit anerkanntem Schutzstatus und Arbeitsmarktzugang nach Beendigung des Integrationskurses schneller in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Auch soll es nach Aufnahme einer Beschäftigung die Möglichkeit für Spracherwerb, Qualifizierungen und Weiterbildungen geben. Die schnellere Arbeitsmarktintegration soll durch eine höhere Kontaktdichte mit dem zuständigen Jobcenter erreicht werden. In der Praxis bestätigen auch erste Zahlen die erhöhte Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten als Resultat durch den Job-Turbo.
Flüchtlinmgsrat und AG Migration und Arbeit Schleswig-Holstein unterstützen die folgende Stellungnahme ndes Fachgremiums Geflüchtete Frauen Schleswig-Holstein:
Situation von Geflüchteten Frauen
Geflüchtete Frauen haben bei der Arbeitsmarktintegration mehr Hürden zu überwinden als geflüchtete Männer. Liebig und Tronstadt haben in einer Analyse von einer "dreifachen Benachteiligung" gesprochen: Geflüchtete Frauen erleben Benachteiligung als Frauen, als Menschen mit Migrationshintergrund und als Geflüchtete. Dies zeigt sich auch in den Statistiken zur Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Frauen. Sechs Jahre nach Zuzug waren circa 23 Prozent der 2015 zugezogenen geflüchteten Frauen in Beschäftigung. Im Vergleich gingen 67 Prozent der geflüchteten Männer einer Arbeit nach. Auch acht Jahre nach Zuzug sind nur 33 Prozent der geflüchteten Frauen erwerbstätig, wohingegen sich die Prozentzahl der geflüchteten Männer auf 86 Prozent erhöht hat.
Es dauert insbesondere dann länger, eine geflüchtete Frau in den Arbeitsmarkt zu integrieren, wenn sie für den überwiegenden Teil der unbezahlten Care-Tätigkeiten zuständig ist. Allerdings hat die erwerbstätige Frau deutlich stärkere positive Auswirkungen auf die berufliche Integration der gesamten Bedarfsgemeinschaft und sorgt dafür, dass der Verbleib der Bedarfsgemeinschaft im SGB II Bezug deutlich kürzer wird. Ohne die Sicherstellung einer Kinderbetreuung ist der Zugang für Eltern, insbesondere Mütter zum Arbeitsmarktmarkt sowie die Teilnahme an einem Sprachkurs und Qualifizierungskursen nicht möglich.
Dass Geflüchtete nun verstärkt im Fokus der Jobcenter stehen, ist zunächst einmal zu begrüßen. Gerade geflüchtete Frauen sind oftmals hochmotiviert zu arbeiten, haben aber besonders mit strukturellen Hürden zu kämpfen, die sie daran hindern. Es ist daher ein guter und wichtiger Schritt, dass Geflüchtete als Fach- und Arbeitskräfte angesehen werden und ihre Integration in den Arbeitsmarkt nicht durch weitere Hürden verhindert wird. Gleichzeitig birgt der Job-Turbo in der Praxis jedoch Gefahren für die (Arbeitsmarkt-)Integration von geflüchteten Frauen. Diese werden im Folgenden beschrieben und eingeordnet.
Der Job-Turbo in der Praxis
Das Ziel des Job-Turbos ist es, Geflüchtete direkt nach Abschluss eines Integrationskurses in Arbeit zu vermitteln. Durch eine erhöhte Kontaktdichte mit den Jobcentern sollen Geflüchtete schneller den Weg in die Erwerbstätigkeit finden, um dann während der Beschäftigung weiter Deutsch zu lernen. Neben dem Spracherwerb soll es auch die Möglichkeit für Qualifizierungen und Weiterbildungen während der Arbeit geben.
Dies ist zu begrüßen: Vor allem eine Arbeit in Vollzeit oder das Absolvieren einer Ausbildung sorgen für eine Verbesserung der Sprachkenntnisse. "Bisher vermittelten Jobcenter Arbeitslose oft in Helferjobs, die diese dann nicht lange ausübten. Im Rahmen des neu eingeführten Bürgergelds sollen Weiterbildung und der Erwerb eines eines Berufsabschlusses stärker im Vordergrund stehen." Diesem Vorstoß von Januar 2023 sahen wir positiv entgegen, da aus unserer Erfahrung Personen, die in unpassende (zur Qualifizierung und Berufserfahrung) Hilfstätigkeiten gedrängt werden, auf Dauer nicht bei ihren Arbeitsstellen bleiben. Für die Arbeitsmarktintegration im Rahmen des Job-Turbo bedeutet das, dass eine reine Vermittlung in Hilfstätigkeiten nicht automatisch zu einer besseren Integration führen wird.
Um eine berufliche Ausbildung zu absolvieren, sind Sprachkenntnisse auf Niveau GER B2 empfehlenswert, besonders für den berufsschulischen Teil. Mit erfolgreichem Abschluss des Integrationskurses ist ein Niveau von B1 erreichbar. In der Folge müsste ein Berufssprachkurs mit dem Ziel B2 besucht werden, um das erforderliche Sprachniveau zu erreichen. Im Rahmen des Job Turbos erfordert dies eine zielgenaue Beratung und die Genehmigung des Jobcenters. Hier gibt es Berichte aus der Beratungspraxis, dass die unqualifizierte Beschäftigung vorrangig der Ausbildung empfohlen wurde.
Wir fordern:
- Die individuelle Situation und die Wünsche und Ziele von geflüchteten Frauen müssen bei der Arbeitsmarktintegration klar im Vordergrund stehen. Die Kostenübernahme für die Anerkennung und die Zeugnisbewertung durch die Jobcenter darf nur in der zu begründende Ausnahme abgelehnt werden.
- Spracherwerb darf nicht zu Gunsten von Beschäftigung benachteiligt werden, da sonst eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration nicht möglich ist. Bei Sprachniveau unter B1 braucht es vorrangig weitere Sprachkurse, da mit geringen Sprachkenntnissen fast ausschließlich Hilfstätigkeiten möglich sind, die nicht zu einer eigenständigen Existenzsicherung führen.
- Das Konzept der Job-BSK Kurse, die einen Spracherwerb neben dem Beruf ermöglichen sollen, ist zu begrüßen. Hier fordern wir aber, dass sichergestellt wird, dass die Teilnahme von geflüchteten Frauen besonders gefördert wird und an ihre Bedürfnisse angepasst wird.
Fehlende Nachhaltigkeit bei der Arbeitsmarktintegration
Der Job-Turbo birgt die Gefahr, dass die Arbeitsmarktintegration nicht nachhaltig und lebensunterhaltssichernd und gänzlich unabhängig von Sozialleistungen erfolgt.
Zur nachhaltigen Arbeitsmarktintegration sieht der Job-Turbo in den Fachlichen Empfehlungen zur Weisung folgendes vor: "Eine nachhaltige Arbeitsperspektive ist nicht für alle Geflüchteten der primäre Weg. Insbesondere bei Geflüchteten, die planen, kurz- bis mittelfristig in ihr Heimatland zurückzukehren, ist die jeweilige Situation und Vorgehensweise differenziert und individuell zu betrachten." Es ist problematisch, wenn die Integration in den Arbeitsmarkt an die potenzielle Rückkehrabsicht der Menschen geknüpft wird, da dies oftmals abhängig ist von nicht beeinflussbaren Entwicklungen im Herkunftsland. Außerdem ist es unklar, wie Mitarbeitende des Jobcenters diese Einschätzung vornehmen sollen. Somit besteht die Gefahr, dass längerfristige Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration nicht ermöglicht werden, wenn die Bleibeabsicht als nicht mittel- oder langfristig eingeschätzt wird. Hier ist es die Aufgabe der Jobcenter, die Interessenlage von Klient*innen individuell und einzeln zu betrachten und sie bei der Integration in die Arbeitswelt zu unterstützen.
Gleichzeitig bedeutet eine Separierung nach möglichen Bleibeabsichten, dass für viele Geflüchtete längerfristige Maßnahmen zur Arbeitsmarktintegration nicht möglich sein werden. Wenn man bedenkt, dass es für geflüchtete Frauen statistisch gesehen ohnehin schon länger dauert, sich in den deutschen Arbeitsmarkt zu integrieren, wird das hierdurch nur noch mehr behindert. Erfahrungen aus der Beratungspraxis scheinen diese Befürchtung zu bestätigen: Nicht allen geflüchteten Frauen, die nach dem Integrationskurs einen weiteren Sprachkurs absolvieren wollen, um eine Ausbildung zu absolvieren und/oder als Fachkraft zu arbeiten, wird dies ermöglicht. Stattdessen gibt es Fälle, wo ihnen stattdessen vom Jobcenter vornehmlich Angebote in Hilfstätigkeiten, zum Beispiel als Reinigungskraft, unterbreitet werden.
In der dritten Phase des Job-Turbos sollen Geflüchtete, die noch nicht als Fachkräfte arbeiten, zu solchen weiterentwickelt werden, "sofern dies ihre Motivation und Eignung zur Qualifizierung zulassen." Natürlich müssen die Wünsche der Geflüchteten bei ihrem beruflichen Werdegang eine Rolle spielen. Allerdings ist es unklar, wer und nach welchen Kriterien die "Motivation" und "Eignung der Qualifizierung" bewertet. Hier besteht die Gefahr, dass vor allem geflüchtete Frauen benachteiligt werden, aufgrund der schon bestehenden Herausforderungen bei der Arbeitsmarktintegration. Es ist problematisch, wenn der Job-Turbo von Geflüchteten verlangt, die vermeintlich benötigten Grundvoraussetzungen des hiesigen Arbeitsmarktes mitzubringen (Belastbarkeit, Flexibilität, etc.) anstatt ein Angebot zu schaffen, das sich nach den Qualifikationen, Bedarfen und Situationen richtet.
Wir fordern:
- Arbeitsmarktintegration soll mit dem Ziel der Nachhaltigkeit erfolgen. Sonst droht die Gefahr von prekären Beschäftigungsverhältnissen und Ausbeutung.
- Die Situation von jeder einzelnen geflüchteten Frau muss individuell betrachtet werden und es müssen bei Problemen individuelle Lösungsansätze geschaffen werden.
Geflüchtete Frauen aus der Ukraine
Eine der Hauptzielgruppe des Job-Turbos sind Geflüchtete aus der Ukraine, von denen die Mehrheit Frauen sind. Eine restriktive Interpretation von kurz- bis mittelfristige" Bleibeperspektive könnte bedeuten, dass eine nachhaltige Arbeitsmarktintegration für sie dann nicht möglich ist. Die Massenzustroms-Richtlinie der EU, die die Grundlage für die Aufenthaltserlaubnis nach § 24 AufenthG bildet, wird im März 2025 auslaufen und eine Verlängerung ist noch nicht sicher. Dementsprechend ist nicht klar, wie sich die aufenthaltsrechtliche Situation von Geflüchteten aus der Ukraine weiterentwickelt.
Geflüchtete mit einem Aufenthaltstitel nach § 24 haben die Möglichkeit, in andere Aufenthaltstitel mit besserer Bleibeperspektive zu wechseln (Beispiel §§ 18a/b AufenthG), müssen hierfür eine Anerkennung ihres Abschlusses vorweisen und dann in einer qualifizierten Beschäftigung untergekommen sein, wodurch sie ihren Lebensunterhalt selbstständig sichern. Dementsprechend kann die Vermittlung in „nicht qualifikations-/potenzialgerechten Beschäftigungsverhältnissen“ für die langfristige Situation von Geflüchteten sehr schädlich sein. Dies kann besonders geflüchtete Frauen betreffen, wenn sie in geschlechts-typische Hilfstätigkeiten, wie Reinigungskräfte, vermittelt werden. Die Herausforderung hier ist, dass die Jobcenter die aufenthaltsrechtliche Situation der ukrainischen Geflüchteten in der Beratung mit bedenken sollten und somit aufgefordert sind, nicht nur im SGB II-Kontext zu beraten.
Die Vermittlung in Arbeit sollte nicht losgelöst von den bisherigen Qualifikationen der jeweiligen Personen erfolgt. Sonst kann es zum Beispiel zu Aufforderungen zur Arbeitsaufnahme in Hilfstätigkeiten an ausgebildete Akademikerinnen kommen und/oder zu prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Als Fachgremium Geflüchtete Frauen können wir mit Expertise über die Lebensrealitäten von geflüchteten Frauen sprechen und würden uns deswegen sehr freuen, mit Entscheidungsträger*innen aus Politik und Verwaltung in einen Austausch zu gehen.
Sprechen Sie uns gerne an.
gez. Die Mitglieder des Fachgremiums geflüchtete Frauen und Mädchen
Kontakt:
Fachgremium geflüchtete Frauen und Mädchen
c/o LandesFrauenRat SH
Ansprechperson: Alexandra Ehlers, Geschäftsführerin
fachgremium[at]landesfrauenrat-s-h.de