Während in Berlin Bundesregierung und Opposition gefühlt nur noch über das Ausmaß künftiger Verhinderung von Flüchtlingszuwanderung streiten, versuchten am Dienstag den 17. September in Neumünster die Teilnehmenden der Tagung „Migrationspolitik am Scheideweg?“ eher herauszufinden, wie bei der Aufnahme von Schutzsuchenden Herausforderungen angenommen und gestaltet werden können.
Flüchtlingsrat, Landeszuwanderungsbeauftragte und die Diakonie aus Schleswig-Holstein hatten zu einer Reihe von Vorträgen renommierter Referent*innen und thematischer Panels eingeladen. Über 120 Teilnehmende aus Migrations- und Gesundheitsfachdiensten, Landes-, Kommunal- und Arbeitsverwaltungen, Medien, Wohlfahrtsverbänden, Migrant*innenorganisationen, Unterstützungs-initiativen, Bildungsträgern und Menschenrechtsorganisationen waren der Einladung gefolgt.
Zum Auftakt beklagte Martin Link vom Flüchtlingsrat die Doppelzüngigkeit der aktuellen öffentlichen migrationspolitischen Debatte: „Wenn Bund und Länder bewusst Attentate Einzelner zum Anlass nehmen, dafür ganze Communities in Haftung zu nehmen, der Bevölkerung gegenüber - bei gleichzeitigem Bedarf an mehr Fachkräften aus dem Ausland - eine Überforderung bei der Aufnahme behaupten und die Abwehr Geflüchteter aus dem globalen Süden bzw. ihre Abschiebung in ihre Herkunftshöllen als zumutbares Allheilmittel verkaufen, ist das weder rechtlich seriös, noch einwanderungspolitisch bedarfsgerecht.“
In ihrem Grußwort legte Doris Kratz-Hinrichsen, Landesbeauftragte für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen Wert auf die Feststellung, dass in Schleswig-Holstein jeden Tag viele Erfolge in der Integration von Zugewanderten sichtbar sind, dass sich Menschen mit Migrationsgeschichte in unsere Gesellschaft mit all ihren Kompetenzen einbringen und auch die positiven Seiten von Zugewanderten mehr Aufmerksamkeit in der politischen und medialen Berichterstattung erhalten sollten. „Denn aufgrund des demografischen Wandels und mit Blick auf die Herausforderungen in einer globalisierten Welt sind wir auf Zuwanderung angewiesen und müssen allen Kräften, die unsere Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit und die Menschenrechte in Frage stellen, gemeinsam entgegentreten“, erklärt Kratz-Hinrichsen.
Die Tagung stellte die gewohnte und aktuelle Herangehensweise von Politik, Verwaltungen, Medien und der Gesellschaft auf den Prüfstand und fokussierte auf einen konstruktiven Umgang mit den Herausforderungen und Ursachen von Flucht und Migration.
Dass sich eine deutsche Migrations- und Flüchtlingspolitik nicht im geschichtslosen und internationalen politischen Vakuum befindet, machte Astrid Willer vom schleswig-holsteinischen Flüchtlingsrat in ihrem Beitrag deutlich: „Die Verschärfungs- und Begrenzungs-Diskussionen sind gekennzeichnet durch chronische Fakten- und Geschichtsvergessenheit. Lösungen werden allein in der Bekämpfung der Fluchtzuwanderung gesucht. Von der Bekämpfung der weltweit eskalierenden Fluchtursachen ist keine Rede mehr.“
Andrea Kothen von PRO ASYL, Frankfurt/M., machte klar, woher und mit welchen Gründen schutzsuchende Menschen hierzulande Aufnahme und Zukunft erhoffen: „Die Schutz Suchenden entfliehen staatlicher und Kriegsgewalt, einem islamistischen Milizenterror, Pogromen gegen ethnische und religiöse Minderheiten oder einem von regelmäßigen Femiziden, Gender-Apartheit oder Klimafolgen entstellten gesellschaftlichen Alltagsmartyrium. Ihre Fluchtmotive auf die Suche nach einem materiell besseren Leben zu reduzieren, wird ihnen nicht gerecht.“
Christian Jakob, Redakteur bei der tageszeitung (taz) in Berlin, warf einen kritischen Blick auf die asylspezifischen Wechselwirkungen zwischen öffentlichen Positionierungen der Politik und der Berichterstattung in den Medien. Regierung und Opposition und große Teile der Medien verlieren „dabei aus dem Blick, dass sie Rechtsextreme nicht rechts schlagen können. Die Rechtsextremen brauchen der angstgetriebenen Übernahme ihrer Agenda so nur zuzuschauen“, mahnt Christian Jacob.
Was die aktuellen politischen Pläne für Auswirkungen für die Einwanderungsgesellschaft heraufbeschwören, war das Thema von Valeria Hänsel von Medico International, Frankfurt/M.: „Der aktuelle Abwärtstrend im Asyl- und Migrationsrecht ist eine Politik gegen unsere Gesellschaft. Über 20 Millionen Menschen haben in Deutschland eine Migrationsgeschichte. Unsere gesellschaftliche Reichhaltigkeit, die das Leben erst lebenswert macht, ist auch deren unzähligen Grenzübertritten zu verdanken.“
Auf das Narrativ der durch Flüchtlingszuwanderung überforderten Kommunen und Gemeinden gingen die kommunalen Vertreter Helmuth Ahrens und Robert Schwerin aus Pinneberg und Prof. Dr. Stephan Ott aus dem Kreis Rendsburg-Eckernförde mit positiven Ansätzen ein. Prof. Dr. Ott präsentierte eine Untersuchung zur kleinräumigen Bevölkerungs- und Haushaltsprognose für den Kreis Rendsburg-Eckernförde für die kommenden Jahre. Diese macht sichtbar, mit welchen Aufgaben durch das Wachstum der Bevölkerung und knapper werdenden öffentlichen Haushalten zu rechnen ist.
Die Möglichkeiten positiver Gestaltung von Einwanderung und Teilhabe Geflüchteter mit Blick auf Aufnahme in den Kommunen, Arbeitsmarktintegration, Strategien gegenüber Presse und Medien sowie zielführender Strategien des solidarischen Engagements haben die Teilnehmenden der Tagung in vier verschiedener Arbeitsgruppen diskutiert.
Zur aktuellen rechtspolitischen Diskussion und zu demgegenüber tatsächlich bestehenden migrationspolitischen Handlungsbedarfen fordern die Veranstaltenden der Tagung:
- Keine Globalverurteilung von Geflüchteten aus muslimischen und anderen Staaten des globalen Südens im politischen und medialen Diskurs.
- Eine geschichtsbewusste grund-, europa- und völkerrechtsadäquate Aufnahme von Schutz- und Asylsuchenden unabhängig vom Fluchtweg
- Schaffung und Umsetzung von Flüchtlingsaufnahmeprogrammen für einen gesicherten Zugang
- Unbürokratische Zugänge für Geflüchtete zu Sprach- und beruflicher Integrationsförderung
- Keine strukturelle Diskriminierung von Schutzsuchenden qua (Lager) Unterbringung, Arbeitsverboten, Bezahlkarte und Kettenduldungen
- Freedom of Choice, mithin das Recht von Schutzsuchenden sich innerhalb der „Schengenstaaten“ das Land aussuchen zu können, in dem sie ihren Asylantrag stellen.
- Integrationsorientierte Beratung vor Aufenthaltsbeendigung! Keine Abschiebung bei positiven Integrationsverläufen in Bildung und Beschäftigung
- Keine Abschiebungen insbesondere von vulnerablen Personen in von Gewalt- und Verfolgungsrisiken und anderen Überlebensnöten gekennzeichnete Herkunftsländer
- Gesetzliche Verankerung von Bundes-, Landes- und kommunale Förderung von Migrationsberatung, behördenunabhängiger Rechtsberatung und zivilgesellschaftlichen Angeboten zur Förderung der sozialen Integration, des Empowerments und des gesellschaftlichen Zusammenhalts.
Veranstaltende:
- Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein e.V., T. 0431-55685640, public[at]frsh.de
- Die Beauftragte für Flüchtlings-, Asyl- und Zuwanderungsfragen des Landes Schleswig-Holstein, T. 0431-9881291, Jasmin.Roehl-Azazmah[at]landtag.ltsh.de
- Diakonisches Werk Schleswig-Holstein, 0431-593189, a.dobin[at]diakonie-sh.de