Ausgerechnet zum heutigen Weltflüchtlingstag beschließt die Konferenz der Ministerpräsidenten, schutzsuchende Menschen zukünftig per Bargeldentzug zu gängeln. Der auf Vorschlag der Länder Niedersachsen und Hessen getroffene Beschluss der Ministerpräsident:innenkonferenz, die sog. „Bezahlkarte“ restriktiv zu gestalten und eine Bargeldauszahlung in Höhe von höchstens 50 € pro Person und Monat zu ermöglichen, stößt bei den Flüchtlingsräten Niedersachsen und Schleswig-Holstein auf scharfen Protest:
„Dieser Beschluss ist ein Votum für eine Rückkehr zu der von uns überwunden geglaubte Politik der Demütigung und Ausgrenzung von Geflüchteten“, kommentiert Claire Deery, Vorsitzende des Flüchtlingsrats. „Lagerunterbringung, Sachleistungen und Bargeldentzug, das hatten wir alles schon einmal. Sollen Schutzsuchende in Deutschland wieder 'abgeschreckt' werden?“
"Die Ministerpräsident*innen setzen mit dem heutigen Beschluss auf die systematische Prekarisierung von nicht selten traumatisierten Schutzsuchenden und sind sich nicht zu schlicht, mit der diskriminierenden Bezahlkarte den Pranger für hierzulande gestrandete Arme neu zu erfinden", empört sich Martin Link, Geschäftsführer beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein.
Denn sollte der Beschluss der MPK umgesetzt werden, hat dies in der Praxis für die Betroffenen viele Probleme und Schwierigkeiten zur Folge: Einkäufe in Second-Hand-Läden, auf Flohmärkten oder kleinen Läden werden nicht oder nur sehr beschränkt möglich sein. Für Schulmaterialien oder die Klassenfahrt der Kinder, ein Eis in der Stadt, die Nutzung einer öffentlichen Toilette oder ähnliche Alltagssituationen fehlt Bargeld. Ein Deutschlandticket, eine Vereinsmitgliedschaft, die Bezahlung des Anwalts oder auch eines Bußgeldes, all dies wird mit der Bezahlkarte kompliziert und schwierig, möglicherweise unmöglich. Wenn die Betroffenen für jede Zahlung, die das 50-Euro-Taschengeld übersteigt und sich mit der Bezahlkarte nicht realisieren lässt, Anträge bei den Sozialämtern stellen müssen, ist das entwürdigend für die Geflüchteten und unnötig belastend für die Verwaltung.
Die Flüchtlingsräte fordern die Grünen auf, diesen Bruch der jeweiligen Koalitionsvereinbarung nicht hinzunehmen. Die Grünen haben frühzeitig klar gemacht, dass sie eine diskriminierungsfreie Umsetzung der Bezahlkarte wollen - und werden jetzt offensichtlich von den Ministerpräsidenten in Hannover und Kiel mit den auf Bundesebene gegebenen Zusicherungen vorgeführt. Welche Glaubwürdigkeit hat die angekündigte Umsetzung eines Landes-Antidiskriminierungegesetzes, welche Glaubwürdigkeit hat ein Integrations- und Teilhabegesetz, wenn vorher die Teilhabe von Geflüchteten durch eine diskriminierende Bezahlkarte eingeschränkt wird?
Die schleswig-holsteinischen Koalitionäre kündigten noch im Juni 2022 an, sich „jeder Form von mittelbarer oder unmittelbarer Diskriminierung … entschieden entgegen“ zu stellen. Dem werden die auch mit Zustimmung Schleswig-Holsteins heute in Berlin beschlossenen Schikanen und Diskriminierungen gegen Arme und Verfolgte nicht gerecht. "Aber sie scheinen als Indiz zu taugen, wie sehr rechtsextremes Gedankengut - selbst ohne parlamentarische Vertertung - schon mitregiert", kritisiert Martin Link und fordert die zuständige Integrationsministerin Aminata Touré auf, "sich nicht von rechtspopulistischen Kampagnen gegen Geflüchtete irritieren zu lassen und mit allem, was ihr möglich ist, die Rechte und Würde von Geflüchteten zu verteidigen."
gez. Martin Link, T. 0431-5568 5640, public[at]frsh.de
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Anhang: Kurzer historischer Rückblick
Die Demütigung von Geflüchteten durch Restriktionen bei der Leistungsgewährung hat in Deutschland eine lange Tradition: Nach Einführung eines gesonderten Leistungsrechts für Asylsuchende im Jahr 1993 kam es – länderspezifisch unterschiedlich und zeitversetzt – in allen Bundesländern zur Einführung von Maßnahmen, die zum Ziel hatten, Schutzsuchenden durch die Ausgabe von „Sachleistungen“ und „Gutscheinen“ das Leben in Deutschland möglichst unattraktiv zu machen. Gleichzeitig ging die Schere zwischen Leistungen für Asylsuchende und Hartz 4 – Leistungen immer weiter auseinander. Erklärtes Ziel dieser Politik war es, Schutzsuchende von einer Inanspruchnahme des Asylrechts möglichst abzuschrecken. Diese Politik endete erst, als das Bundesverfassungsgericht sie am 18. Juli 2012 in einer Aufsehen erregenden Entscheidung für verfassungswidrig erklärte und beschied: „Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren“ (BVerfG, Urt. v. 18.7.2012 – 1 BvL 10/10, Rn. 95).
Nach und nach wurde die diskriminierende Gutscheinpraxis in fast allen Bundesländern abgeschafft. Politiker:innen und Verwaltungen erklärten die Politik der Abschreckung und Diskriminierung für gescheitert und bemühten sich um die Implementierung einer „Willkommenskultur“. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass zehn Jahre später neue Diskriminierungen eingeführt werden sollen.
Letzte Meldung vom 1.8.2024: Seebrücke Kiel und Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein haben ein gemeinsames Papier "Vorschläge zur Ausgestaltung der Bezahlkarte in Schleswig-Holstein" erarbeitet, mit dem sich beide Organisationen im Sommer 2024 an die schleswig-holsteinische politische Klasse und das zuständige Sozialministerium wenden, um eine weitgehend diskriminierungsfreie Umsetzung der Bezahlkarte im Bundesland zu erreichen.