Am 3. August hat sich der Völkermord an den ÊzîdInnen im Nordirak zum zehnten Mal gejährt. Zu diesem Anlass haben der Flüchtlingsrat SH, die Landeszuwanderungsbeauftragte SH, die Landesarbeitsgemeinschaften für Migration in der SPD und bei den Grünen sowie das Yezidische Forum am 3. September einen Fachtag im Kieler Landeshaus ausgerichtet.
Nach einem Grußwort der Stellvertretenden Landtagspräsidentin Eka von Kalben und einer Gedenkminute für die Opfer des Genozids führte Prof. Sefik Tagay von der TU Köln in die Geschichte des Êzîdentums ein. Der Journalist Tobias Huch und der aus dem Irak online zugeschaltete Menschenrechtler Mirza Dinnayi leuchteten die aktuelle Situation im Nord-Irak und bestehende Rückkehrrisiken aus. Die Lage der ÊzîdInnen und ihre aufenthaltsrechtliche Situation thematisierten Ilyas Yanc vom Yezidischen Zentrum Oldenburg und Axel Meixner, Jurist beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. Dem Podiumsgespräch zwischen Expert*innen und dem Landtagsabgeordneten Lars Harms, SSW, behandelte die Frage, ob Abschiebungen in den Irak verantwortbar sind und welche Alternativen es gibt.
Die Bilanz des Fachtags: Die Lage der ÊzîdInnen im Irak[1] ist düster – und wird es absehbar bleiben. In ihrem Kernsiedlungsgebiet im kurdischen Sinjar kämpfen staatliche irakische und extremistische nichtstaatliche Akteure rücksichtslos um Macht und Einfluss[2]. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes[3] bestätigt, dass „die Zukunftsperspektiven in Sinjar angesichts herausfordernder Lebensbedingungen, der Präsenz von nicht-staatlichen Milizen sowie einer mangelnden Umsetzung des sog. Sinjar-Abkommens schwierig“ bleiben. Inzwischen erstarkt der Islamische Staat[4] (IS) einmal mehr im Irak[5], Flüchtlingslager werden aufgelöst, ohne dass die Menschen wissen wohin, und ÊzîdInnen sind in ihren seit dem Genozid weitgehend ruinierten Siedlungsgebieten wieder auf der Flucht.
Ungeachtet dessen zaudern Bund und Länder, einen angemessenen vollständigen Abschiebungsstopp zugunsten von ÊzîdInnen aus dem Irak zu beschließen, und sind mehrheitlich gewillt – trotz Anerkennung des Genozids durch den Deutschen Bundestag im Januar 2023[6] - volljährige, männliche ÊzîdInnen in diese prekäre Un-Sicherheitslage abzuschieben und sie dort ihrem perspektivlosen Schicksal zu überlassen.
Die Veranstaltenden des Fachtags wenden sich am 3. September mit einer Reihe von Forderungen an den Bund und an die Landesregierung Schleswig-Holstein:
- Ein bundeseinheitlichen Abschiebestopp für ÊzîdInnen und andere bei ihrer Rückkehr in den Irak höchst gefährdete vulnerable Gruppen.
- Ein Bundesaufnahmeprogramm zugunsten von ÊzîdInnen aus dem Irak, das ggf. auch für ausreisepflichtige ÊzîdInnen zugänglich gehalten werden soll.
- Einflussnahme der Landeregierung Schleswig-Holstein auf das Asyl-Bundesamt (BAMF), ÊzîdInnen regelmäßig Abschiebungsverbote zuzusprechen.
- Der in Schleswig-Holstein bestehende Erlass zu Rückführungen in den Irak[7] hinsichtlich der für vulnerable Personen im Zielland bestehenden erheblichen Risiken so zu überarbeiten, dass Zuwanderungsbehörden bei Integrationsleistungen regelmäßig bleiberechtliche Alternativen zu Aufenthaltsbeendigungen weisen.
- Das Land Schleswig-Holstein soll bei der Umsetzung des im Koalitionsvertrag vereinbarten Landesaufnahmeprogramms[8] insbesondere gefährdeten ÊzîdInnen eine Aufnahmeperspektive einräumen.
Hintergrund:
Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen im Irak ist ein Abschiebestopp längst überfällig: Die Lage für ÊzîdInnen hat sich in den letzten Wochen verschärft. Allenthalben herrscht Straflosigkeit bei Tötungsdelikten. Der Islamische Staat (IS) reorganisiert seine Kräfte. Die irakische Regierung lässt dessen ungeachtet Zehntausende ÊzîdInnen aus den Flüchtlingslagern im Nordirak räumen – ohne, dass es einen sicheren Ort für sie gibt. Konkret bedeutet das: Genau zehn Jahre nach dem Beginn des Völkermords durch den IS stehen die ÊzîdInnen im Irak vor einer völlig ungewissen Zukunft.
Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes betont, dass die Schließung der Flüchtlingslager in der kurdischen Autonomieregion sogar mit einer noch schlechteren Versorgung einherginge und die Situation für ÊzîdInnen zusätzlichen verschärfen würde. Auch eine innerirakische Fluchtalternative gibt es nicht, denn die ezîdidischen Familien und Einzelpersonen sind auf die für sie überlebenswichtige Gemeinschaft und den Schutz in ihren traditionellen Siedlungsgebieten im Norden des Irak angewiesen.
Kontakt:
- Jasmin Azazmah, Dienststelle der Landeszuwanderungsbeauftragten SH, T. 0431-988 1276,
Jasmin.Roehl-Azazmah[at]landtag.ltsh.de - Martin Link, Flüchtlingsrat SH, T. 0431-5568 5640, public[at]frsh.de
[1]https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/2024_04_23_Zur-Lage-der-Jesidinnen-und-Jesiden-im-Irak.pdf
[2]https://www.bundestag.de/presse/hib/kurzmeldungen-1002892
[3]https://fragdenstaat.de/dokumente/sammlung/18-lageberichte-des-auswartigen-amts/
[4]https://www.lpb-bw.de/islamischer-staat
[5]https://www.deutschlandfunk.de/us-militaer-toetet-nach-eigenen-angaben-im-irak-15-is-kaempfer-102.html
[6]https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2023/kw03-de-jesiden-927032
[7]https://www.frsh.de/artikel/msjfsig-irak-rueckfuehrungen
[8]https://www.cdu-sh.de/sites/www.cdu-sh.de/files/koalitionsvertrag_2022-2027_.pdf S. 118, Zeilen 4073-4070