Mindestens 50 Prozent aller Geflüchteten sind Mädchen und Frauen. Ihnen wird in Herkunfts- und Fluchttransitländern ein selbstbestimmtes Leben – regelmäßig das Überleben – erschwert.
Dass vor diesem Hintergrund Schleswig-Holstein 500 besonders schutzbedürftige Personen, vor allem Frauen und Mädchen, über ein Sonderprogramm aufnehmen wird, ist aus Sicht des Landesflüchtlingsrats in höchstem Maße bedarfsgerecht. „Wir begrüßen diesen humanitären Akt der Landesregierung“, erklärt Farzaneh Vagdy-Voß, Koordinatorin beim Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein. „Wir hoffen allerdings auch, dass diese Maßnahme zum Schutz insbesondere vulnerabler Gruppen unter den auf ihren Fluchtwegen Gestrandeten nicht einmalig bleibt, sondern zum regelmäßigen Instrument der Landesflüchtlingsaufnahmepolitik gerät“, ergänzt Vagdy-Voß.
Der Erfahrungsschatz aus vergangenen Sonderaufnahmeprogrammen ist vielfältig. Als zielführend hat sich dabei die Unterbringung in kleinen und geschützten Einrichtungen, individuelle psychosoziale Erstversorgung und eine langfristige kultursensible Unterstützung von Integrationsschritten erwiesen. „Voraussetzung für die nachhaltige Integration ist allerdings auch ein sicherer Aufenthaltstitel von Anfang an und der unbürokratische Zugang zum Nachzug von Familienangehörigen“, mahnt Vagdy-Voß.
Dass sich das Aufnahmeprogramm speziell Frauen und Mädchen widmet, ergibt sich aus den besonderen Risiken, denen diese in den von Verfolgung, Unterdrückung, Krieg, Krisen und Gewalt geprägten Herkunftsländern und auf der Flucht ausgesetzt sind. Sexueller Missbrauch und Gewalt gegen Mädchen und Frauen gehören zur Strategie in vielen Kriegen. Frauen und Mädchen erleben weltweit strukturelle Gewalt und Unterdrückung. Sogenannte Ehrenmorde, Zwangsabtreibungen, Zwangsheiraten, Witwenverbrennungen und Genitalverstümmlungen sind Formen nichtstaatlicher Verfolgung. Systematische Bildungsbenachteiligung oder polizeiliche Nachstellungen für politisch engagierte und gegen religiöse Gebote verstoßende oder bisweilen nur dessen verdächtige Frauen sind in zahlreichen Staaten weltweit Standard.
Auf der Flucht setzt sich das weibliche Trauma aus Diskriminierung und Verfolgung fort. Regelmäßig können Frauen ohne Unterstützung krimineller Akteure ihre Fluchtetappenziele nicht erreichen, werden allerdings ebenso häufig zu Opfern von Menschenhandel und sexueller Gewalt.
Legale Wege, zum Beispiel über den Familiennachzug, wurden vom Gesetzgeber für die meisten Frauen und ihre Kinder im Zuge unangemessener Bürokratien versperrt. „Bei der seit Sommer 2018 vom Bund ausgelobten 1.000-Köpfe-Visa-Lotterie[1] für den Familiennachzug zu humanitär Geschützten, ziehen die meisten betroffenen Familien nur Nieten“, beklagt Vagdy-Voß. Diese Rechtslage und Verwaltungspraxis sei erheblich mitverantwortlich dafür, dass sich Frauen und Mädchen auf gefährliche Fluchtwege begeben müssen und dabei zahlreich zu Tode kommen.
Zu oft setzen sich Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen allerdings auch in Deutschland fort. Unzureichender Gewaltschutz in Erstaufnahme- und anderen Unterkünften, retraumatisierende Anhörungen von weiblichen Gewaltopfern, strukturelle Benachteiligung beim Zugang zu Integrationsförderung, … - die Liste der Faktoren, die zu Ohnmachtsgefühlen und Diskriminierungserfahrungen von geflüchteten Frauen beitragen, ist lang.
„Frauen, die hier eine Zuflucht finden könnten und sollten, stellen oft erst gar keinen eigenen Asylantrag. Nicht selten sind Unkenntnis oder Ängste vor den behördlichen Verfahren Ursachen“, erklärt Vagdy-Voß. Als Ehepartnerin eines Schutzberechtigten, aber ohne eigenen Schutzstatus bestehe eine erhebliche Abhängigkeit und ein ultimatives Hindernis für Selbstbemächtigung und Gleichberechtigung.
gez. Martin Link, public(at)frsh.de, T.: 0431 55685360
<link https: www.frsh.de artikel familien-gehoeren-zusammen-schleswig-holstein-muss-sich-fuer-den-schutz-des-familienlebens-einsetzen external-link-new-window external link in new>[1] Seit August 2018 dürfen bundesweit pro Monat nur 1.000 Visa für Familienangehörige von in Deutschland als subsididiär geschützte Flüchtlinge anerkannte Schutzsuchende ausgegeben werden.