Heute gedenken wir gemeinsam der Opfer des Nationalsozialismus. Die beständigen und aggressiven Versuche der extremen Rechten, eine zukunftsgewandte Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu bekämpfen und zu delegitimieren, sind indes schon lange zentraler Bestandteil einer Ideologie, deren Kern ein homogenes Volk, umfassende nationale Abschottung, die Verweigerung internationaler Verantwortung und die Ablehnung demokratischer Werte, Institutionen und Verfahren ausmachen. Das kommt in den aktuellen Ereignissen der letzten Wochen und Monate und in den Kämpfen um gesellschaftliche und politische Deutungshoheit in besonderer Weise zum Ausdruck.
Aus den nicht allein in dem am 27. Januar 1945 durch die Rote Armee befreiten Konzentrationslager Auschwitz begangenen Menschheitsverbrechen Nazideutschlands erwächst eine unabwendbare Verantwortung für den Schutz jüdischen Lebens überall auf der Welt. Diese historische Verpflichtung ist aber auch Teil einer umfassenden, universellen Verantwortung für die Menschenrechte und das Völkerrecht – immer, überall und jeder/m gegenüber. Die Würde des Menschen zu achten, einzelne Personen und Menschengruppen vor Stigmatisierungen, Ausgrenzung, vor existenzieller Not und ggf. vor staatlicher Gewalt an welchem Ort der Welt auch immer zu schützen, sind für uns zentrale Lehren aus der deutschen Geschichte.
Gleichzeitig stellen wir fest, dass eine Erinnerungskultur hierzulande sich regelmäßig aus biodeutscher Perspektive speist und es bisher nicht gelungen ist, im Einwanderungsland Deutschland einen inklusiven und diversen Ansatz und damit eine plurale Erinnerungskultur zu entwickeln.
Das drückt sich auch in den politischen und gesellschaftlichen Debatten und in der medialen Berichterstattung über die Gewalt in Israel/Palästina aus. Die Beschränkung notwendiger und legitimer demokratischer Diskursräume und der Verzicht auf eine globale Kontextualisierung, also auf einen umfassenden Blick auf Ursachen und Verantwortungen für die aktuelle Situation im Nahen Osten werden weder demokratischen Erfordernissen noch dem zentralen Bedarf des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Einwanderungsgesellschaft gerecht.
Doch die Anzahl der Personen, die vom derzeitigen Konzept der Erinnerungskultur nicht mitgenommen werden und die keine biographischen Bezüge zum Holocaust und in der NS-Zeit begründeten totalitären Strukturen haben, erhöht sich durch Einwanderung stetig. Eine Erinnerungskultur, die Generationen überdauern und zukunftsorientiert sein will, sollte alle Aspekte einer Gesellschaft einschließen. Davon ausgehend, dass unser modernes Leben maßgeblich von Migration mitgeprägt ist, ist es unerlässlich, für Eingewanderte die Geschichte ihrer neuen Heimat im Zuge interkultureller Bildungsstrategien zugänglich zu machen. Denn die Fremde wird erst dem Menschen ein Zuhause, der ihre Geschichte erfährt, und deren Spuren in der eigenen Gegenwart nachvollziehen kann.
Um unsere sich stetig verändernden, diversen Gesellschaften adäquat zu repräsentieren und gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen begegnen zu können, muss Erinnerungskultur daher dynamisch und für alle zugänglich und mitgestaltbar sein.
Als Bundesland mit dem schnellsten Aufstieg der NSDAP, geografischem Rückzugsgebiet der zu Ende gehenden Naziherrschaft, als wesentlicher Schauplatz des Kriegsendes und der damit einhergehend intensiveren Verstrickungen in den Totalitarismus nimmt Schleswig-Holstein auch mit Blick auf die Kriegsfolge der großen Aufnahme Vertriebener eine besondere Rolle in der Geschichte des Nationalsozialismus ein.
Wenn auch im bundesdeutschen und internationalen Vergleich kaum bekannt, so existieren in Schleswig-Holstein rund 50 Gedenkstätten, Erinnerungs- und Lernorte zur Geschichte des Nationalsozialismus. In dieser vielfältigen Engagementlandschaft existiert ein Bewusstsein für die dynamische Entwicklung unserer Gesellschaft, jedoch mangelt es bislang an adäquaten Zugängen und Teilhabemöglichkeiten für Menschen mit Migrationsgeschichte.
Gleichzeitig konstatieren aktuelle Studien, dass extrem rechte Einstellungen zunehmend in der Mehrheitsbevölkerung reanimiert werden. Schon mehr als acht Prozent haben ein manifestes rechtsextremes Weltbild. Alarmierend ist auch, dass grundsätzlich 17 Prozent der Befragten Gewalt billigen würden.
Allerdings besteht angesichts dieser sich zunehmend nach rechts bewegenden Gesellschaft für Bund und Länder bis dato offenbar keine spürbare Veranlassung, vorhandene zivilgesellschaftliche Ansätze und zielgerichtete Konzepte von Pluraler Erinnerungskultur zu fördern. Nicht erst angesichts der aktuellen Welle rechter Kampagnen u.a. für eine sogenannte „Remigration“ gerät das u.E. aber zu einer wirksamen Unterlassungssünde zulasten möglicher diverser Strukturen der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte, die gleichzeitig geeignet sind, die Resilienz bei aktuellen Anfeindungen zu steigern und eine nachhaltige Strategie zur Förderung des gesellschaftlichen Zusammenhalts in der Einwanderungsgesellschaft zu etablieren.
Wir treten ein für die Weiterentwicklung der deutschen Erinnerungskultur zu einer „Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft“ die für uns nur als plurale, inklusive und demokratisch-wertegebundene Form der Auseinandersetzung mit Geschichte und heutiger Verantwortung denkbar ist und alle Menschen, die hierzulande leben, als Personen und mit ihren individuellen und kollektiven Geschichten einbezieht.
Gute Gründe dafür gibt es offensichtlich genug!
gez. Martin Link, Landesweite Flüchtlingshilfe, Flüchtlingsrat SH e.V., public[at]frsh.de