Eskalieren Krieg und Gewalt weiter in Afghanistan? Welches Schicksal droht abgeschobenen Flüchtlingen? Diese und weitere Fragen zu beantworten, haben Flüchtlingsrat und Diakonie am Dienstag, den 2. Juni, vier renommierte und Afghanistan-erfahrene ReferentInnen in die Schalom-Kirche nach Norderstedt eingeladen. Die Veranstalter wollten mit Blick auf die diese Woche in Bremerhaven tagende Innenministerkonferenz Argumente für ein Bleiberecht für bis dato ausreisepflichtige afghanische Flüchtlinge sammeln.
Der Einladung der Norderstedter Flüchtlingsberatung der Diakonie, der Diakonischen Werke HH und SH, der NEK-Flüchtlingsbeauftragten und des Flüchtlingsrats Schleswig-Holstein gefolgt waren Prof. Norman Paech, Völkerrechtler und Abgeordneter der Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag; Nasrin Mofid, Vorsitzende des Rats der Afghanischen Frauen in Hamburg; Erna Hepp, Rechtsanwältin aus Hamburg und Anne Helberg, Beraterin des Hamburger Flüchtlingszentrums von DRK, Caritas und AWO.
Paech war zuletzt im April in Afghanistan gewesen. Er fand ein von Gewalt, Armut und Drogenwirtschaft zerrüttetes Land vor. Jeder zweite Afghane gilt nach UN-Kriterien als arm. Acht Mio. leiden Hunger. Im Land herrscht die welthöchste Kinder- und Müttersterblichkeit. Nur 25% haben Zugang zu sauberem Trinkwasser. Das Land sei komplett von Importen abhängig und die Regierung sei manipuliert von Parvenüs und Profiteuren. Die Justiz ist zersetzt von Korruption. Allenthalben herrsche Straflosigkeit - auch für zahlreiche ehemalige Warlords, die heute als Parlamentsabgeordnete durch Immunität geschützt seien. "Die Menschen haben jegliches Vertrauen in die Regierung, die Justiz und das Parlament verloren" erklärt Paech. Auch die Aktivitäten des ausländischen Militärs der USA und der NATO könnten daran nichts ändern. Ganz im Gegenteil, seinen gerade die Provinzen, in denen alliiertes Militär aktiv sei am stärksten von Aufstandsgewalt von Taliban und anderen Gruppen erschüttert.
Nasrin Mofid lenkte den Blick auf die Situation der Frauen im Land. Eine Mio. seien verwitwet. 60-80% der jungen Frauen und Mädchen ab 13 Jahren würden Opfer von Zwangsverheiratungen. 90% sind Analphabetinnen und noch mehr sind arbeitslos - nur 4.000 Frauen landesweit sind berufstätig. 3.000 Frauen sind als Opfer familiärer und männlicher Gewalt behördlich aktenkundig - das sei nur die Spitze des Eisbergs einer immensen Dunkelziffer. Alle 30 Minuten stirbt eine Schwangere. Inzwischen gehen nur noch die Hälfte der Mädchen zur Schule.
Angesichts dieser bedrohlichen und perspektivlosen Lage, berichtet Rechtsanwältin Hepp, hat immerhin Hamburg beschlossen, afghanische Flüchtlinge, die seit mindestens 18 Monaten geduldet sind, eine Aufenthaltserlaubnis zu gewähren. Mit einer solchen humanitären Entscheidung hat das schleswig-holsteinische Innenministerium noch nicht auf sich aufmerksam gemacht.
Anne Helberg goss ein wenig Wasser in den Wein. Die Hamburger Regelung sei durch erhebliche Bedingungen erschwert, die viele der Flüchtlinge, erst recht die größeren Familien unter ihnen, kaum erfüllen könnten. Unter anderem stehe das Versprechen eines Bleiberechts unter dem Vorbehalt eines Dauerarbeitsplatzes, der so gut bezahlt sein müsse, dass die Betroffenen vollständig unabhängig von Leistungen der öffentlichen Hand würden. Mit Blick auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung würde allein diese Auflage dazu führen, dass viele Flüchtlinge nicht aus dem Unzustand der Kettenduldung heraus kämen.
Veranstalter und Referenten forderten die ab Donnerstag in Bremerhaven tagenden Innenminister aus Bund und Ländern auf, eine großzügige Bleiberechtsregelung für die afghanischen und andere langjährig in Deutschland geduldeten Flüchtlinge zu beschließen.
gez. Martin Link